Oppenweiler wirkt noch sehr verschlafen. Nur von weit und gedämpft, ist ein vorbeifahrender Zug zu hören. Die Dunkelheit gibt das ruhige Licht einiger Straßenlaternen frei. Der Blick gleitet hinüber zum Pflegeheim Steigacker. Dort und in wenigen anderen Häusern der näheren Umgebung, leuchten Fenster. Es scheint, als ob andere Menschen schon wach sind. Die Lichter erzählen uns aber nicht, was im Altenheim und in den Häusern wirklich geschieht. Wir können nur vermuten, dass dort Menschen einander begegnen. In der äußeren Dunkelheit sind sie nicht zu sehen. Sie bleiben für uns anonym. Ist das alles? Wie nahe liegt da die Reaktion, uns auch in eine innere Dunkelheit zurück zu ziehen? In dieser inneren Anonymität blieben uns und anderen Menschen Beziehungswünsche verborgen. Wir könnten uns dann beruhigen mit Vorstellungen wie: »Was ich nicht weiß, das macht mich nicht heiß! «, oder: »Was kümmern uns die anderen? Wir können ja eh nichts ändern! «.
In dieser Situation wäre es aber auch möglich, Pascal folgend, zu sagen: »Das Herz hat seine Gründe, die der Verstand nicht kennt! « und uns über die bestehenden und selbst Verstand, Schranke, gefertigten Schranken hinweg setzen, mit den unsichtbaren Menschen in der Fantasie in Beziehung zu treten und uns fragen, wie es den Alten, die sich nicht mehr selbst versorgen können, in dieser Nacht ergangen ist? Ob sie friedlich schlafen konnten oder von Angst und Schmerzen gepeinigt wurden? Wir könnten auch fragen, wie die Schwestern und Pfleger die Nacht verbrachten; ob ihr Dienst anstrengend war, der Arzt zu einem Notfall gerufen werden musste, oder ob sie sich gerade jetzt noch um pflegebedürftige Menschen kümmern, und was die Alten und ihre Helfer vom neuen Tag erwarten? Die Fähigkeit, mit den Augen des Herzens zu sehen, würde uns, wie mit einem Nachtsichtgerät, erlauben, auch in der Dunkelheit zu sehen. Die Vorstellung, dass dort im Altenheim, Tag und Nacht Menschen für einander da sind, einander begegnen, auch wenn wir sie nicht sehen, scheint gar nicht so realitätsfern zu sein. Sie könnte uns aber helfen, die innere und äußere Anonymität aufzubrechen, und mit anderen Menschen in Beziehung zu bleiben, auch wenn wir sie nicht sehen.
Wie von Zauberhand angeknipst, leuchten in der näheren Umgebung immer mehr Fenster. In Oppenweiler scheint sich Leben zu regen: Berufstätige bereiten sich auf die Fahrt zu ihren Arbeitsplätzen in der Region vor. Sie reihen sich in die endlose Schlange der Autos ein, die sich mitten durch unseren Ort quält. Andere Menschen eilen, in sich gekehrt, zu den Haltestellen von Bus und Bahn. Mütter versorgen ihre Kinder, um sie danach in den Kindergarten zu bringen. Schüler eilen auf die letzte Minute zum Zug.
Alle Menschen, Groß und Klein, nicht nur im Altenheim, sind eingebunden in ihren Pflichtenkreis. Sie profitieren, wie selbstverständlich von anderen Personen, manche in der Vorstellung, als gebe es einen Rechtsanspruch auf eine reibungslos funktionierende Vollversorgung, durch Menschen, die anonym, im Hintergrund, Tag und Nacht ihr Überleben sichern. Meistens bemerken sie erst dann, ihre Abhängigkeit, wenn eines oder mehrere Glieder der Versorgungskette reißt und ausfällt:
Wird die Mutter krank, der Vater arbeitslos, dann trifft das unmittelbar die ganze Familie. Fallen Züge aus, sind Kindergärten geschlossen, streikt die Müllabfuhr, fällt der Strom aus, dann ist es oft sehr schwierig, geeignete Ersatzlösungen zu finden. Streiken Arbeiter, Ärzte, Pfleger oder Schwestern, verunsichern Entscheidungen der Banker und Politiker die Bürger, dann können Auswirkungen davon, viele Menschen treffen. Bedrohen destruktive Kräfte die öffentliche Sicherheit, gefährden wirtschaftliche Veränderungen die Arbeitsplätze oder erschüttern Katastrophen unser Sicherheitsbedürfnis, dann erst begreifen wir, wie sehr wir auf einander angewiesen sind. Könnte es sein, dass wir uns in unserer Gesellschaft so sehr an die Vorstellung gewöhnt haben, dass andere Menschen für unsere persönliche Sicherheit und unser Wohlergehen verantwortlich sind, sodass Eigeninitiative sich erübrigte und wir uns durch Flucht in die Anonymität davor schützen könnten, unsere stillen Helfer wahrzunehmen und ihnen danken zu müssen.
Gibt es andererseits im vor uns liegende Advent, einer Zeit der Umkehr, in der Barrieren abgebaut und krumme Wege gerade gerichtet werden sollten, nicht genügend Anlass, ab und zu an jene Menschen zu denken, die ohne dass wir sie sehen, beständig um unser Wohl und Wehe besorgt sind? Vielleicht kostete es keinen unüberwindlichen Aufwand, die oft beklagte Anonymität unter uns aufzusprengen, um mit einander ins »Gespräch« zu kommen. Wünschen wir uns darum gegenseitig jeden Tag ein wenig Ruhe, um uns im geheimnisträchtigen Advent, über die Geschenke so vieler unbekannter Menschen und das Kind zu freuen, das bei uns ankommen will. Der kleine Adventskranz auf meiner Fensterbank, der gestern billig zu kaufen war, drängt unversehens in´s Blickfeld: Er ist schlicht gestaltet. Nur zwei festlich glänzende kleine Äpfel, eine etwas gewöhnliche, rote Schleife, und eine Kerze, schmücken die zum Kranz gebundenen Tannenzweige. Wir nehmen uns Zeit, für unsere Verhältnis zu einander, sehr viel Zeit, um den kleinen Adventskranz auf uns wirken zu lassen. Plötzlich geschieht ein kleines Wunder:
Die aufkeimende Freundschaft mit dem kleinen Adventskranz zaubert ein Leuchten auf unser Gesicht und die Augen beginnen zu strahlen. Die Vorfreude auf den kommenden Advent, zieht uns so sehr in ihren Bann, dass wir uns nicht mehr zurück halten können, und die Kerze heute schon anzünden, obwohl wir eigentlich noch Tage zu warten hätten. Ist es eine Täuschung oder ein weiteres Wunder? Wir sehen den Adventskranz auf einmal doppelt, denn vor dem Hintergrund des nur sehr zögernd anbrechenden Tages, hat die Kerze sich in der Fensterscheibe ein Abbild geschaffen, als wollte sie sagen: Ich will die Anonymität durchbrechen, mich im Fenster spiegeln, und allen, die mich sehen wollen, doppelt Licht und Segen spenden. Ob aber wir
Menschen in der vorweihnachtlichen Zeit in der Lage sind, uns auf ruhige Adventstage und die Ankunft des Kindes zu freuen und die Botschaft hören, dass auch ihr »anonymer Dienst« gesehen, bemerkt und anerkannt wird, ist die Frage, die sich jetzt stellt.
Wenn uns in den Tagen vor dem Fest, hektischer Geschäftigkeit erfasst und sich Männer, Frauen und Kinder, in endlosen Schlangen durch die Einkaufszonen der Städte drängen, sich in überfüllten Kaufhäusern an einander vorbei bewegen, eingelullt von »Stille Nacht…, und O du Fröhliche…«, auf der Jagd nach all dem Nötigen und Unnötigen, kann da Ruhe, Besinnlichkeit, Begegnung und Erwartung auf die Ankunft des Herrn geschehen? Schaut uns aus diesem »Spiegel« nicht der reine Konsument, ein Zerrbild unserer selbst an? Und wir könnten weiter fragen, ob diese schreckliche Anonymität auch andere Lebensbereiche beherrscht und wie wir dennoch mit anderen Menschen in Beziehung bleiben können?
Die Verkäuferin, Mutter schulpflichtiger Kinder, hält uns entgegen: Ich bange um meinen Arbeitsplatz und stelle mich schweren Herzens dem zunehmenden Leistungsdruck. Advent, was ist das schon für mich? Die Hektik nimmt zu, je näher das Fest kommt. Auch an Wochenenden müssen die Verkaufszahlen stimmen. Das Verkommen der Weihnachtslieder zu einer Beschallung, die Kauflaune wecken soll, geht mir längst auf die Nerven. In den wenigen freien Stunden versuche ich auch Erwartungen der Familie zu erfüllen. Ich backe unermüdlich Plätzchen, die in Nachtschichten entstehen, aber auf geheimnisvolle Weise, längst vor dem Fest wieder verschwinden. Plätzchen schmecken bekanntlich vor dem Fest am besten. Ein Kreislauf, der die Erwartung, allen eine gute Mutter sein zu können, jedes Jahr aufs Neue enttäuscht. Natürlich weiß ich um den Segen der Ruhe und kenne die Weihnachtsbotschaft vom Kind in der Krippe. Ich erlebe aber all die gut gemeinten Einladungen und Angebote, mich einzustimmen, und einzubringen, wie eine kaum mehr zumutbare Belastung. Wenn ich dann erschöpft in der Kirchenbank ausruhe, während einer längeren Predigt den Kopf senke, einnicke, und dann, zur Aufmunterung einen Rippenstoß meines Gatten bekomme, kann ich diese Berührung keineswegs als Ausdruck wohlwollenden Verstehens begreifen.
Ein erfahrener Mann in leitender Stellung, sagt uns: Die Geschichte mit Advent und Weihnachten kenne ich sehr gut. Ich kann aber das Gedudel der Weihnachtslieder in den Städten und Kaufhäusern nicht mehr aushalten und höre gar nicht mehr hin. Ich meide diesen Umtrieb und spreche, in der Erwartung, es interessiere andere Menschen nicht, auch nicht gern über meine vielen Aufgaben gegen Ende des Jahres, von zunehmender Konkurrenz im Management und der schmerzlichen Rivalität unter Kollegen. Pflichtbewusst absolviere ich die verschiedenen Weihnachtsfeiern im Betrieb, in Vereinen, der Politik und sozialen Einrichtungen. Die Nerven sind zum Platzen gespannt und manchmal entlädt sich der angestaute Ärger, im einzigen angstfreien Raum, der Familie, zur Unzeit, an Kleinigkeiten. Ruhe, Besinnung auf das Fest, Erwartung des Kindes in der Krippe, ja, er kenne das irgendwie von Kindheit an, aber in seiner Realität,
die ihn tagtäglich umgebe, könne er sich keine Sentimentalitäten leisten. Ja, wenn er krank wäre, Zeit hätte, wie ein Rentner, oder gar Pfarrer wäre, der nichts anderes zu tun habe, dann könnte er sich Besinnung erlauben.
Ein achtjähriger Knabe freut sich auf den Advent und das kommende Weihnachtsfest. Er berichtet: Die Mutter hat -wie üblich- einen Adventskalender in der Küche aufgehängt. Wie in den vergangenen Jahren, darf er jeden Tag ein Fenster öffnen und das Stück Schokolade dahinter essen. Wenn man ihn dabei hantieren sieht, wird nicht so ganz klar, ob das Öffnen des Türchens oder der Genuss der Schokolade den größeren Reiz auf ihn ausübt. Er scheint bei Einkäufen in der Stadt auch nicht überfordert und ist unentwegt dabei, seiner Mutter Hinweise zu geben, was er sich zu Weihnachten wünscht. Die Tage und Nächte im Advent wollen aber nicht vorbei gehen, als ob sie besonders lange dauerten. Wenn es endlich so weit ist und an Heilig-Abend die ganze Familie Geschichte das Krippenspiel in der Kirche, und die Geschichte von Maria und Josef, dem Jesuskind, den Engeln, Hirten, Ochs und Esel hinter sich gebracht hat, ist zu Hause nur noch das vom Vater verlesene Weihnachtsevangelium und einmal das Lied »stille Nacht, heilige Nacht« zu überstehen, dann erreicht das Fest den ersehnten »Höhepunkt«: Nicht nur die Kinder, sondern auch die Eltern und Verwandten geben ihre vornehme Zurückhaltung auf und packen erwartungsfroh ihre Geschenke aus, nicht wenige, wie die Kinder. In dieser Fülle fällt es nicht immer leicht, daran zu denken, wie wenig ein Kind in der Krippe braucht, um sich uns zu schenken. Es könnte ja sein, dass wir, wenn wir auf manches Entbehrliche verzichteten, uns weniger vor der Armut des göttlichen Kindes schämen müssten.
Ein Pfarrer, so sagt man, hat während der Adventszeit und über die Weihnachtsfesttage viel zu tun. Wir sind gespannt auf seinen Bericht: Er kann sich kaum der vielen Angebote erwehren, an vorweihnachtlichen Feiern bei Jungen, Alten und Kranken teilzunehmen. Nach den Festtagen ist er wieder weniger gefragt. Bei den Gottesdiensten im Jahreskreis ist die Kirche oft fast leer. Er fragt sich besorgt, wie das kommt? Eine schmerzliche Angelegenheit für ihn und die wenigen treuen Christen, auf die er sich verlassen kann. Umso größer ist seine Freude, wenn sich über Weihnachten viele Christen um den Altar versammeln und das Gotteshaus bis auf den letzten Platz füllen.
Wir kehren zurück zu unserem Adventskranz auf der Fensterbank und der Kerze, die unverdrossen Licht spendet, obwohl die Dunkelheit zu schwinden beginnt, und ein neuer Tag erwacht. Es gibt keinen Grund für Christen, die Augen vor dem Tag und der Realität zu schließen und sich in eine innere Anonymität zurückzuziehen. Der Herr, der Weg, Wahrheit und Leben ist, ist auch das Licht, das alle Dunkelheit erhellt. ER ist der Fels, das Fundament, IHM können wir »blind« vertrauen. In Freude und Not zünden wir daher als Brüder und Schwestern unsere Kerzen an und dürfen sicher sein, dass »ER, das göttliche Kind«, unsere Armut nicht scheut und in uns Wohnung nimmt.