Je mehr wir uns dem Ende unseres Aufenthaltes im Spätberufenen- Seminar St. Pirmin in Sasbach bei Achern näherten, desto mehr drängten sich Fragen auf, ob wir nach bestandenem Abitur, auch den Anforderungen eines Studiums der Katholischen Theologie, an der Universität in Freiburg genügen würden: Mit gemischten Gefühlen folgten wir Pirminer der Einladung zu einem Besuch nach Freiburg in das Collegium Borromaeum, um den künftigen Studien- und Wohnort näher kennen zu lernen. Herr Rektor Oberle hatte mich beauftragt, für die Einladung und den dortigen Empfang zu danken. Ich wünschte sehr, dass es mir gelingen würde, hierzu die passenden Worte und den rechten Ton zu finden. Die ersten Eindrücke bei der Ankunft in Freiburg schienen die Befürchtungen zu bestätigen, dass uns nicht nur ein schmerzlicher Abschied von St. Pirmin und der Region um Sasbach, sondern auch ein schwieriger Anfang im Priesterseminar Collegium Borromaeum bevorstand. Dieser Eindruck bestätigte sich, als wir den Unterschied zwischen dem einladend wirkenden Seminargebäude in Sasbach und dem geschlossenen Gebäudekomplex des Collegium Borromaeum in Freiburg sahen.
An die der Öffentlichkeit zugängliche, damals etwas düster wirkende Seminarkirche, mit dem, überlebensgroßen Christus-Fresko hinter dem Altar, schloss sich das von außen ebenso streng wirkendem Collegium in der Schoferstraße, mit dem wuchtigen Eingansportal und der das Grundstück umfriedenden hohen Mauer an. Gegenüber baute sich, wie ein allen Stürmen trotzendes „Bauwerk“, das Erzbischöfliche Ordinariat mit der von vielen romanisierten Fenstern durchbrochenen Fassade auf. In zeitlichem Abstand betrachtet, legten sich mir und auch anderen Freunden des Kurses, damals ahnungsvoll, erste Schatten auf die Seele, denn es stellten sich uns unvermutet mehr Fragen als wir beantworten konnten. Zum Glück hellte sich unsere Stimmung beim Betreten des Hauses ein wenig auf, denn eine an der Pforte tätige ältere Schwester, wies uns freundlich den Weg zum Speisesaal, als würden wir schon erwartet. Mit etwas wackligen Knien schritt ich auf den großen, nicht nur zu unserem Empfang auf Hochglanz polierten Fließen, durch einen hellen, hohen Flur, zum „Refektorium“. Dort angekommen, konnte ich, wenn eine Person den Raum verließ, durch den Türspalt, in den überdimensionierten Speisesaal schauen. Zur Rechten sah man eine Schar schwarz gekleideter Herren an einer langen Tafel sitzen. Ein kurzer Rundblick ließ erahnen, dass auch, wenn wir uns dazu zählten, noch viele Alumnen in dem reichlich großen Raum Platz gefunden hätten. Die Zeit bis wir aufgefordert wurden einzutreten, nutzte ich dazu, mir nochmals zu überlegen, was ich als Sprecher des Kurses in dieser für uns ungewohnten Situation, zum Dank sagen könnte. Ich war mir aber in einem wichtigen Punkt nicht ganz sicher: Uns war zu Ohren gekommen, dass der Direktor des Collegiums, ein strenges Regiment führe. Er stammte aus dem südlichen Teil des Schwarzwaldes, dem Hotzenwald. Aus dem Umgang mit den eigenen Verwandten, wusste ich nur zu gut, dass „Hotzenwälder“ manchmal sehr dickschädelig sein können. Aus diesem Grund wurde vermutlich der Direktor unter den Priesteramtskandidaten nur „Hotz“ genannt. Irgendwie kamen mir zum Glück vor dem Betreten des Speisesaales erhebliche Zweifel, ob dies sein wirklicher Name sein könne?
Wie zu erwarten, waren im Priesterseminar hilfreiche Schutzengel anzutreffen. Mir lief jedenfalls im passenden Augenblick auf dem Flur ein Herr in „Schwarz mit Römerkragen“ über den Weg. Diese Gelegenheit, mich zu vergewissern, wie ich den Direktor ansprechen sollte, ließ ich mir nicht entgehen. Kurz entschlossen, sprach ich den Herrn in „Schwarz“ an, und sagte: „Darf ich Ihnen eine Frage stellen“? Er antwortete: „Wenn ich sie beantworten kann, gern“. Durch das freundliche Lächeln meines Gegenübers ermuntert, fuhr ich fort: „Ich bin beauftragt, uns beim Direktor des Collegiums für die Einladung zu diesem Besuch, und den freundlichen Empfang zu bedanken. Leider bin ich mir aber nicht sicher, ob er wirklich den Namen „Hotz“ trägt, wie ich es von Seminaristen hörte?“ Der Mann in „Schwarz mit Römerkragen“ schien sehr bemüht, die Form zu wahren, als er mir, das Lachen unterdrückend, antwortete: „Unser Direktor trägt den Namen Huber. „Hotz“ ist sein Spitzname. So wird er von den Seminaristen genannt“. Ich bedankte mich für die Auskunft, und aufatmend auch bei meinem persönlichen Schutzengel, der mir, wie so oft im Leben, wieder einmal hilfreich zur Seite stand. Der Mann in „Schwarz mit Römerkragen“ kehrte mir nun auffallend rasch den Rücken zu, und lief davon. Ein Stein fiel mir vom Herzen. Nach dieser Begegnung habe ich mich schon oft gefragt, welches „Gelächter“ entstanden wäre, wenn ich, mit der Anrede „sehr geehrter Herr Hotz“, die Ansprache im Refektorium begonnen hätte. Wie wäre der verblüffte Direktor mit dieser Überraschung zu Recht gekommen? Auch ich wäre verdutzt dagestanden, ohne zu ahnen, was die hier versammelten Theologen so überschäumend amüsierte. Diese Blamage blieb mir aber erspart. Im Gegenteil: Die Dankesrede kam an, und wurde mit freundlichem Beifall belohnt. Der Schreck musste mir aber gründlich in die Glieder gefahren sein, denn ich erinnerte mich später kaum an die Mahlzeit, und nur lückenhaft an die anschließende Führung.
Einige Wochen blieben uns noch, um von St. Pirmin, den Menschen dort und der vertrauten Region Abschied zu nehmen. Wir hatten diese Zeit auch nötig, um uns auf das Studium in Freiburg und das neue „Zuhause“ im Collegium-Borromaeum einzustellen. Die Frage, ob meine Fähigkeiten ausreichen würden, um den Anforderungen des Studiums zu genügen, bedrängte mich manchmal? Als ich aber den künftigen Lebensweg bedachte, tröstete mich die Tatsache, dass ich ja auch trotz gelegentlicher Zweifel am Erfolg, in der Lage war, im Jahr 1967 das Abitur zu bestehen. Damals war ich immerhin schon siebenunddreißig Jahre alt. Einst war ich einmal der jüngste Stadtrat und nun der älteste Abiturient Baden-Württembergs. Es gab genügend Anlass zum Dank für den bisher erfolgreich verlaufenen Weg, und berechtigte Hoffnung, auch den künftigen Aufgaben gewachsen zu sein. Die frohe Erwartung, nun bald an der Universität durch das Studium der Katholischen Theologie mehr, über unseren Glauben und dessen Bedeutung in unsere Gesellschaft erfahren zu dürfen, ließen alle kleinlichen Bedenken zurücktreten. Einige Voraussetzungen, die ich mitbrachte, stützten meine Hoffnung, mit Gottes Hilfe auch die anstehenden Aufgaben bewältigen zu können. Ich konnte darauf vertrauen, dass mein bisheriger Glaube. die Lebenserfahrungen und intensive Vorbereitung in St. Pirmin, bei den weiteren Studien ab und zu hilfreich sein könnten. Außerdem gab es manche mir wohl gesonnene Menschen, mit deren Hilfe und Gebet, ich auch weiterhin rechnen durfte. Unter diesen Bedingungen lockte das Studium der Theologie und Philosophie vehement.
Liebe Leser, es ist mir wichtig, Ihnen die Studienzeit in Freiburg so nahe zu bringen, dass sowohl die dort erworbenen Kenntnisse, als auch die Personen, die sie uns vermittelten, in ihrer Bedeutung erkannt werden können. Ich bitte daher den Heiligen Geist, wie im Stundengebet mit den Worten: „Herr, öffne meinen Mund, mein Herz, und alle meine Sinne, Dich zu preisen!“ Im August 1967 erreichten mich zwei wichtige Nachrichten: Ein Brief, der mich darüber informierte, dass ich unter die Kandidaten der Theologie der Erzdiözese Freiburg aufgenommen wurde, und eine Einladung zu Exerzitien, gehalten von Dr. Klaus Hemmerle. Wir neuen „Alumnen“ trafen mit unseren Habseligkeiten zum festgelegten Zeitpunkt im „CB“, wie das Collegium Borromaeum unter den Kandidaten genannt wurde, ein. Groß genug war mein Zimmer: Ein Kleiderschrank, das Bett, ein Tisch und Stuhl aus älterem Bestand, bildeten die Einrichtung. Ich versuchte, mit etwas Dekor und einigen Büchern, dem Raum eine minimale persönliche Note zu geben. Albert, der wie ich, schon bessere Zeiten gesehen hatte, besuchte mich. Er hatte offensichtlich auch noch wenig Durchblick, und den Wunsch, sich zu orientieren. Dass dieses Gespräch der Anfang einer bis zum heutigen Tag bestehenden Freundschaft sein könnte, war nicht voraus zu sehen. Ein nachfolgender Gegenbesuch in seinem Zimmer überzeugte mich davon, dass wir nicht weit von einander, unter gleichen Bedingungen untergebracht waren. Zum Glück stellte sich bald heraus, dass sich nicht nur unser bescheidenes Mobiliar ähnelte, sondern dass sich auch unsere Einstellungen in manchen Punkten deckten. Ich war froh, durch Albert eine erste mitfühlende Seele in neuer Umgebung gefunden zu haben.
Unseren Exerzitienmeister Dr. Klaus Hemmerle kannte ich schon lange. Er war Jahre zuvor Vikar in meiner Heimatpfarrei St. Josef in Rheinfelden. Ich habe ihn, als groß gewachsenen Mann, mit einer markanten Nase und so schlank in Erinnerung, dass er Mitleid erregte, und man ihm einige Pfunde mehr wünschte. Er hatte seine helle Freude daran, andere Menschen mit Wortspielen zu ergötzen. Diese Technik war aber so eingefleischt, dass ihm verdrehte Sätze auch bei feierlichen Anlässen aus dem Munde purzelten. Der Leser stelle sich einmal vor: Hemmerle hielt eine Fastenpredigt in Rheinfelden, und sprach lauthals von „Jesus, der in Kesseln gefettet war“. Wer konnte da noch andächtig bleiben? Er drückte seine Hirtensorge auch gelegentlich in der Frage aus, die ihm der Herr einst stellen werde: „Hemmerle, Hemmerle, wo sind Deine Lämmerle?“ Wir begegneten einander noch viele Male, bis er als Bischof von Aachen, leider viel zu früh, sterben musste. Auf einem Photo, das auf meinem Schreibtisch steht, schaut er mich, von Krankheit gezeichnet, sehr ernst an. Ich erinnere mich nicht mehr an Einzelheiten der Vorträge die er uns Alumnen während der Exerzitien hielt. Er führte uns aber, selbst sichtlich betroffen, auf so hohem geistigem Niveau an die zentralen Geheimnisse des Lebens und Sterbens Jesu heran, dass ich, berührt von seinen Worten, diese Exerzitien nie mehr vergessen konnte.
Am zweiten November 1967 begann ich mit dem Studium an der Universität in Freiburg. Der tägliche Weg führte am Münster, mit den Marktständen, und den schon von weitem appetitlich lockenden Würsten vorbei. Oft bewunderte ich die Menschen, deren Glauben und Kunstfertigkeit uns diesen einmaligen Kirchenbau mit seinem figuralen Schmuck der Portale, den kunstvoll gestalteten Fassaden, den vielen Wasserspeiern, und dem prächtig ausgestatteten Innenraum mit den wunderschönen gotischen Fenstern, hinterlassen haben. Das Freiburger Münster zeigte sich, Stein für Stein als ein Gotteshaus, das uns vom Staunen zum Beten führte, dessen mächtiger Turm mit seiner filigranen Spitze wie ein Finger Gottes, aus der Zeit in die Ewigkeit wies. Dieser kunstvolle Bau, der die Wirren des letzten Krieges überstand, war aber auch ein den Glauben stärkendes Zeichen der Zusage Gottes, dass die Pforten der Hölle seine Kirche nicht zu überwältigen vermögen. Ich frage mich oft in unseren unruhigen Tagen, wie es heute um die Bedeutung der Katholischen Kirche und deren Beitrag zur Sicherung christlicher Grundwerte in unserem Land, in Europa und weltweit bestellt ist? Kann es Christen gleichgültig sein, wenn unsere Kirchen geschlossen oder anderen Zwecken zugeführt werden, und Minarette die Aufgabe übernehmen, uns an Gottes Gegenwart zu erinnern? Sollten wir nicht unseren Bischöfen und Priestern brüderlich beistehen, wenn sie die Gläubigen aufrütteln und mahnende Worte wagen.
Vor Jahren lernte ich den früheren Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, Erzbischof Dr. Robert Zollitsch kennen und schätzen. Zu meiner Zeit war er noch Repetitor im Collegium Borromaeum in Freiburg. Ich konnte damals nicht ahnen, auf welche Weise unsere Wege sich später kreuzen würden. Die Tagespost vom 2.2.10 berichtete über seine Predigt anlässlich des Karlsfestes im Aachener Dom, in der er die Auflösung, wenn nicht gar Zerstörung christlicher Grundwerte beklagte, und in Rückbesinnung auf unsere christlich-abendländische Kultur, verantworteten Glauben forderte, um der religiösen Gleichgültigkeit und dem praktischen Agnostizismus die Stirn zu bieten. Ich staune immer wieder, wie Gottes Liebe Menschen formt, und auf große Aufgaben vorbereitet: Der äußeren Erscheinung nach war Erzbischof Zollitsch schlank geblieben. Davon konnte ich mich überzeugen, als wir uns nach langer Zeit bei einer Veranstaltung der Welte-Gesellschaft in Freiburg wieder begegneten. Er möge mir verzeihen, dass ich ihm bei einem Versuch, mich vorzustellen, versehentlich versicherte, ich hätte ihn vor Jahren im CB kennen gelernt, während er dort als „Präfekt“ tätig war. Er wehrte dieses Ansinnen mit Recht energisch ab. Mittlerweile ist mir der kleine Unterschied zwischen dem Rang eines Präfekten und seiner damals ausgeübten Aufgabe als „Repetitor“ wieder voll bewusst.
Eine Person, die mich vom ersten Augenblick an faszinierte, war der Religionsphilosoph Bernhard Welte. Wenn er mit seiner markanten Stimme in einem bis auf den letzten Platz besetzten Hörsaal dozierte, und ab und zu den Kopf in den Nacken warf, um sich mit einem Blick nach oben zu vergewissern, dass er noch „auf der Spur des Ewigen sei“, hätte man ein Blatt Papier hören können, das zu Boden fiel. Wir Studenten hingen an seinen Lippen, wie Durstige, das klare Wasser der Wahrheit brauchten. Er verstand es, scheinbar selbstverständliche Phänomene noch einmal wie neu zu betrachten. Mit der Frage „was ist das“ nahm er uns mit auf einen Weg, der auf hohem, geistigem Niveau, immer mehr von einer vorder- zu einer hinter- und tiefgründigeren Betrachtung des Gegenstandes der Untersuchung führte. Wenn wir seinem Vortrag auch nicht immer sofort zu folgen vermochten, so prägte sich doch die Art und Weise in der er die Untersuchung durchführte, die Gedanken vortrug, und die Betroffenheit, mit der er im Umkreis des „Heiligen“ um Worte rang, tief in unsere Seelen ein. In zeitlichem Abstand hierzu blieb er für mich vorbildlich, wenn es galt, Glauben und Vernunft miteinander zu versöhnen. In seinen Schriften erwies er sich als ein engagierter Brückenbauer, der es verstand, die Bedeutung philosophischen Denkens zu erschließen und zu verantwortlichem, eigenem Nachdenken anzuregen. Ich freue mich, dass sein umfangreiches Werk über die Welte-Gesellschaft, in einer Gesamtausgabe eine würdigende Verbreitung erfährt. Es ist sicher kein Zufall, dass mich mein Lebensweg auch mit seinen Schülern zusammenführte:
Dem Dogmatiker Prof. Dr. Hünermann begegnete ich erstmals in Freiburg. Man erkannte ihn unterwegs, wenn er rank und schlank, zügig ausschritt, an seiner Baskenmütze. Mit einem entwaffnenden, bei jeder passenden Gelegenheit aufblitzenden Lächeln, und seiner klugen, zum Ziel führenden Argumentation, strahlte er bei seinen Vorlesungen eine vitale, reflektierte Frömmigkeit aus. Sein lebhaftes Mienenspiel und die sprechenden Gesten begleiteten den Vortrag. Er verstand es, komplexe Zusammenhänge auf das Wesentliche zu reduzieren, und verständlich darzulegen. Den Vorlesungen war eine gewisse Leichtigkeit zu eigen, die seine Hörer ermutigte, sich den angesprochenen Texten angstfrei zuzuwenden. Professor Hünermann fand in seiner unbekümmerten Art, bei den Studenten Anklang. Weder er noch ich konnten damals ahnen, welche Bedeutung seine Vorlesungen über das Examen hinaus in meinem Leben haben würden: Die ewig aktuelle Frage des „Parmenides: „Warum gibt es etwas und nicht nichts“ und andere ontologischen Grundfragen des christlichen Glaubens und der Offenbarung, beschäftigten mich permanent bis heute. Der damalige Anstoß zur kritischen Reflexion der Gotteslehre bei Aristoteles, führte mich zur Frage, ob wir ohne Schaden zu nehmen, die Gedanken Platons, Aristoteles, der Vorsokratiker und deren philosophische Wirkungsgeschichte ausklammern könnten? Anhand der von Karl Jaspers vertretenen Existenzphilosophie, lernten wir den philosophischen vom religiösen Glauben zu unterscheiden. Auch der von Anselm von Canterbury in den Schriften „ Proslogion und de veritate“ ausgeführte Gedanke, dass „Gott etwas sei, über den hinaus nichts Größeres gedacht werden könne“ behielt, wenn es um Aspekte möglicher Gottesbeweise ging, bis in unsere Tage, seine Bedeutung. Während meiner weiteren Studien an der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster, begegnete ich Prof. Hünermann wieder. Er hielt damals, als Studentenseelsorger, sehr lebendige Gottesdienste mit aufbauenden Predigten in der Dominikaner-Kirche. In geistiger Freundschaft verfolgte ich über viele Jahre sein Engagement im universitären und kirchlichen Bereich und bei Veranstaltungen der Welte-Gesellschaft. Ab und zu kam es zu einem Telefongespräch, wenn ich sein Lächeln nötig hatte, um schwerer verdauliche Speise bei römischen Vorgaben, in mein katholisches Weltbild zu integrieren. Ohne diese Vorgeschichte, über die wir wie selbstverständlich nie miteinander redeten, hätte ich sein umfangreiches Werk zum zweiten Vatikanischen Konzil sicher nicht in meine Bibliothek eingestellt. Ich bin tief beeindruckt, dass er dem Vernehmen nach, noch in hohem Alter, in Erfurt eine für die Kirche der ehemaligen Ostgebiete bedeutsame Aufgabe übernahm, um Vorschläge zu erarbeiten, wie den dort anstehenden Problemen künftiger Glaubenssicherung, strukturell begegnet werden könnte. Die „stille Freundschaft“ mit Prof. Hünermann über viele Jahre ermunterte mich, unverdrossen,,das mir Mögliche beizutragen, um der Katholischen Kirche ein freundlich-einladendes Gesicht zu geben; und die Notleidenden unserer Tage mit einem dankbaren Lächeln im Glauben zu bestärken.
Auf jede Vorlesung des Alttestamentlers Prof. Alfons Deissler, habe ich mich erwartungsvoll gefreut. Als junger Altstudent mit einiger Lebenserfahrung, entdeckte ich in ihm auf Anhieb das „Besondere“; seine Fähigkeit, der ewig jungen Wahrheit des Glaubens Gehör zu verschaffen. Wenn er ans Podium trat, schien es, als habe er lange zuvor die Worte, die er ehrfürchtig und kraftvoll aussprach, bei sich erwogen. Die Worte aus seinem Munde zu Ehren Gottes, legten auch bei seinen Hörern ein Verlangen frei, sich de „Heiligen“ ehrfurchtsvoll zu nähern. Seine Exegese über „ausgewählte Psalmen“ und „das Buch Hosea“, sprang wie ein Funke auf uns über. Ich konnte diesem modernen Propheten leider nie sagen, wie wichtig mir damals seine Andacht, Demut und sein Glaubenszeugnis waren, und bis auf den heutigen Tag geblieben sind. Ich bin nicht der Einzige, den er mit seinem Auftreten und seinen, bis in die Sprachlosigkeit hineinwirkenden Worten beschenkte: In dem 1989 im Herder-Verlag zu seinem 75. Geburtstag erschienenen Buch „Der Weg zum Menschen“, bezeugen viele Editoren, Autoren und Gratulanten, was sie Alfons Deissler verdanken. Auf dem Photo in diesem Band schaut er mit einem leisen, lebenserfahrenen Lächeln durch die Betrachter hindurch, als wolle er auch dadurch, auf einen menschenfreundlichen Gott verweisen. Ich machte mir das einleitende Zitat von Bischof Klaus Hemmerle zu eigen, mit dem er Deissler in seinen religionsphilosophischen Beitrag charakterisierte und ehrte: Es hieß dort: „Wohl kein anderes Schriftwort steht für mich in so dichter Beziehung zu Alfons Deissler wie Mi 6,8. Er übersetzte den Vers wie folgt: „Man hat dir (bereits) verkündet, o Mensch, was gut ist und Jahwe an dir sucht: nichts anderes als Gerechtigkeit üben, den Brudersinn (hesed) lieben, und in Dienmut wandern mit deinem Gott“. Dieser liebenswürdigen Aufforderung habe ich nichts hinzu zu fügen.
Zu einer ernsten Belastungsprobe meiner Glaubensüberzeugungen kam es, als der vertretungsweise in Freiburg lehrende Professor Riedl uns in seiner Vorlesung „Einleitung zum Neuen Testament“ mit aktuellen exegetischen Befunden konfrontierte. Damals habe ich mir bereits die Frage gestellt, ob die historisch-kritische Betrachtung, dem im Evangelium verbürgten Gottes Wort, der Frohbotschaft für alle Menschen, angemessen ist? Wie kann man sich erkühnen, nach zweitausend Jahren Kirchengeschichte, und sorgfältiger Überlieferung der Heiligen Schrift, in der Suche nach dem „Sitz im Leben“ zu entscheiden, welche Worte der Herr wirklich sagte, und was als zeitgeschichtliche oder sonstige Einkleidung für den Glauben unerheblich sei? Zum ersten Mal ging es für mich um entscheidende Fragen. Ich war schockiert und sah meinen bewährten Glauben bedroht, wenn ich diesen exegetischen Auffassungen folgte. Die Befürchtung stellte sich ein, dass ich beim weiteren Studium in anderen theologischen Disziplinen mit ähnlich befremdlichen Überraschungen konfrontiert werden könnte. Glaube in einem das Leben tragenden, existenziellen Vollzug, und theologische Wissenschaft, waren für mich von da an nicht mehr fraglos deckungsgleich. Ich war gefordert, genau hin zu sehen, was gelehrt wird, kritisch und wach zu bleiben, um unseren Glauben und das Evangelium vor Schaden zu bewahren und notfalls unter allen Umständen zu verteidigen. Die Mittel hierzu waren aber noch sehr bescheiden. In dieser Situation wandte ich mich wieder im Gebet an Gott den Herrn, der seine Kirche treulich durch die Jahrhunderte führte, mit der Bitte. ER möge sie und unseren Glauben auch in Zukunft beschützen. Vorerst war ich aber gewarnt.
Die von Professor Franzen 1965 im Herder-Verlag erschienene „Kleine Kirchengeschichte“, und die ergänzenden Vorlesungen über die alte Kirche von den Anfängen bis Gregor dem Großen, von dort zur Reformation, und darüber hinaus bis zur Gegenwart, ermutigten mich sehr. Der Katholischen Kirche, die trotz stärkster Bedrohungen, verlustreichen Glaubenskämpfen, und schmerzlichen Spaltungen, eine zweitausendjährige Geschichte überlebte, traute ich zu, dass sie Mittel und Wege finden werde, die Anfeindungen und Herausforderungen in unseren Tagen und in Zukunft zu bestehen. Große Heilige, Kirchenführer und unzählige treue Christen folgten der Aufforderung des Herrn: „Ihr werdet meine Zeugen sein!“ Ihnen allen, auch Professor Franzen schulde ich Dank. Er hat mir ja eine erste Brücke zum tieferen Verständnis der Kirchengeschichte im jeweiligen historischen Umfeld vermittelt. Es ist nicht zu übersehen, wie steinig der Weg unserer Kirche durch die Zeit war, und dass viele menschliche Schwächen und Schuld ihr Pilgerkleid beschmutzten. Dies kann aber nicht verdecken, welcher Segen für die Menschen von dieser „armen Kirche“ unter Gottes Beistand ausgegangen ist. Möge es uns vergönnt sein, mit ihrer Hilfe unseren Glauben auch in dem zusammenwachsenden Europa und überall auf der Welt zum Wohle aller Menschen unversehrt weiter zu geben.
In einigem Abstand zu den Ereignissen in Freiburg, die immer wieder von Semesterferien unterbrochen, reichlich Zeit ließen, um in der heimatlichen Umgebung, vertraute Menschen zu erleben, verlor auch das Leben im Collegium Borromaeum seine anfänglichen dunklen Seiten. Die Gottesdienste in der Seminarkirche und im Münster, die sich anbahnenden Freundschaften, die städtische Betriebsamkeit Freiburgs. und ab und zu eine leckere Wurst als Zwischenverpflegung vor dem Münster, lockerten das von mir ernstlich betriebene Studium auf. Selbst das gegenüberliegende Erzbischöfliche Ordinariat stand ab zu für eine Weile im Sonnenlicht. Mühten sich doch dort auch engagierte Christen mit vielen schwierigen Fragen, Entscheidungen und Planungen zum Wohle der Diözese ab. Die Zeit rückte näher, um vom Collegium Borromaeum, der Universität und dem inzwischen vertrauten Freiburg mit seinem schönen Münster, Abschied zu nehmen. Die anfänglichen Fragen, ob ich in der Lage wäre, den Anforderungen des Studiums der Katholischen Theologie zu genügen, waren abgeklungen. Das ordentliche Ergebnis der abschließenden Prüfungen, erlaubte keinen Zweifel, dass ich beim Wechsel zur Universität in Münster das Theologie-Studium in der „Externitas“ erfolgreich fortsetzen könnte. Lediglich der Wohnortwechsel in das mir nicht bekannte Münsterland, und die Frage, wie ich als „Süddeutscher“ dort überleben könnte, beunruhigten mich gelegentlich. Beim Studium an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg, entdeckte ich meinen unersättlichen Hunger nach Wahrheit, Gerechtigkeit und Geborgenheit im katholischen Glauben. Wie ein Schwamm sog ich alles auf, was mir das Leben im Seminar und an der Universität an Anregungen hierzu bot. In einer großen Offenheit und wenn nötig kritisch, strebte ich nach wahrer Erkenntnis und einem umfassenden Verständnis unseres katholischen Glaubens. Ich freute mich darauf, meinem Ziel Priester zu werden, auch in Münster ein Stück näher zu kommen. Über die folgenden, entscheidungsreichen Jahre, werde ich in einem nächsten Beitrag berichten.