Es ist seltsam, dass in einem Alter, in dem Menschen das näher rückende Ende vor Augen, das Schwinden der Zeit beklagen, es als nötig erachten, ein Plädoyer für das Leben und die Wahrheit zu halten. Wer aber meine drei Bücher „Geschichten und Gedanken“ kennt und weiß, aus welchem Holz ich als Enkel eines Bildhauers geschnitzt bin, den wird es nicht überraschen, wenn ich in dieser Situation noch etwas zu sagen habe. Von meinem komplexen Lebensweg soll jedoch in diesem Text, nicht mehr eigens die Rede sein, obwohl er mir gelegentlich als Arbeitsmaterial dienen darf. Umso mehr will ich mir gestatten, mit einer Auswahl von Beispielen darauf zu verweisen, was im Leben von Menschen aus den verschiedensten Gründen leicht übersehen wird.
Mit dem Schicksal eines „Spätberufenen“, das mein Leben prägt, habe ich mich versöhnt, denn alle wichtigen Entscheidungen fielen im Segen des Himmels zu rechten Zeit. Zu kurz gekommen bin ich daher bislang nicht. Seit einigen Jahren nutze ich als Pensionär den mir geschenkten Freiraum, um mit interessierten Lesern über die Fragen unserer Zeit ins Gespräch zu kommen. Es ist mir aber ein Anliegen, im letzten Lebensabschnitt, nur noch über Themen zu sprechen, die mir wichtig sind.
So trete ich, frei von beruflichen und gesellschaftlichen Zwängen, in Bindung an die mir bewussten Werte, für den Schutz des Lebens und der erkannten Wahrheit in allen Belangen unseres Daseins ein. Heute sehe ich mich eher in der Lage, ohne Scheu, über Erfahrungen zu reden, die bisher nicht im Zentrum meines Interesses lagen. Es gab Themen, bei denen es mir in den rückliegenden Jahren gelegentlich ratsam schien, zu schweigen. Die Abhängigkeit von der öffentlichen Meinung ist erheblich. Gleichzeitig lege ich Wert darauf, zu wichtigen Fragen unseres Umgangs mit einander und unserer Rolle in der heutigen Gesellschaft Stellung zu beziehen. Die eigene Urteils- und Kritikfähigkeit hierzu, verdanke ich familiären, beruflichen, religiösen und kulturellen Quellen meiner Biographie. Damit berühren wir einen wesentlichen Punkt meines Themas:
Wer kann es sich, einbezogen in das berufliche, gesellschaftliche, mediale und politisches Geschehen leisten, die eigene, dem Leben geschuldete Wahrheit, offen zu vertreten? Natürlich sprechen wir alle gern von der freien Meinungsäußerung in einer Demokratie. Dabei gehen wir davon aus, dass die öffentliche Meinung nur in autoritären Regimen unterdrückt wird. Das stimmt zuweilen, und wir beklagen zurecht jede Unterdrückung der Pressefreiheit. Es gilt aber bei unserer Betrachtung mit einem durch Erfahrung geschulten Blick, auch auf die in demokratisch verfassten Staaten bestehende, subtile Steuerung der öffentlichen Meinung zu achten.
Hierzu einige Anmerkungen: Seit Jahren arbeite ich in meinem letzten und schönsten Beruf als freier Schriftsteller. Frei von direkten Zwängen, jedoch nicht unabhängig von aktuellen politischen und gesellschaftlichen Prozessen, hat sich die Palette der Interessen deutlich erweitert. Wenn sich auch die körperlichen Optionen mit dem Älterwerden reduzierten, so führte ein beständiges Lernen zu einer erheblichen Erweiterung meines Handlungsspielraums. So besehen, kann auch das Alter zu einer schönen, gestaltungsreichen Lebensphase werden.
Ich liebe die Sprache, das Wort und die kreativen Fähigkeiten, seit ich denken kann. Meine Vorbereitung auf diesen letzten Beruf erfolgte zwar nicht durch ein Germanistik-Studium, anstelle dessen jedoch durch ein lebenslanges Lernen in der Familie, dem Studium, leitenden Funktionen in Beruf, Politik, Kirche, so wie durch Erfahrungen in einer eigenen Praxis. Der heimatliche Dialekt und der lebendige Umgang mit Sprachen und der Literatur, sind mir von Kindheit an vertraut. Ich sammelte aber auch Erfahrungen, in denen es nicht ratsam war, in offener Rede seine Meinung zu sagen.
Unsere Mutter hatte es in den entbehrungsreichen Jahren des letzten Krieges und danach nicht leicht. Zwei temperamentvolle Söhne in Schranken zu weisen. Wir tauschten unsere Ansichten lautstark aus, bis dann einer der Beteiligten, die Kampfstätte verließ, um Trost und Verständnis bei Freunden zu suchen. Dies hielt uns aber nicht davon ab, in der Not zusammen zu stehen. Mein Bruder war ein besserer Bettler beim Hamstern; ich verstand mich auf das geschickte Verhandeln bei Tauschgeschäften. Unsere Mutter gestand uns aus ihrer eigenen Erfahrung genügend Freiraum zu. Wir lernten sehr früh zu entscheiden, wann wir von unseren nächtlichen Ausflügen zurück- kehren sollten. Sie schärfte uns als Verhaltensnorm lediglich ein, ihr „keine Schande zu machen“, was immer sie darunter verstand. Das Familienleben mit meiner Frau unseren drei Töchtern, und deren Famiien, bot reichlich Anlass, die Fähigkeit zur Meinungsäußerung, zur Versöhnung, gelegentlich auch zum Schweigen zu schulen. Das Verständnis für einander und die Bereitschaft zur Offenheit wuchs auch gegenüber den Verwandten.
Unser Großvater aus dem Hotzenwald, war als ein liberal gesinnter, politisch sehr engagierter Mann bekannt. Mein Stiefvater ging für seine Überzeugungen als Kommunist ins Konzentrationslager. Im damaligen politischen System des Dritten Reiches, bestimmte nur die nationalsozialistische Meinung das öffentliche Leben. Während des Krieges stand das Anhören ausländischer Radio-Sendern nach dem Motto “Feind hört mit” unter Strafe. Der Religionsunterricht fand nur in Privatwohnungen statt. Und dennoch wagte es unser damaliger Pfarrer öffentlich, politisches Unrecht an zu prangern.
Der Schulunterricht passte sich nach 1945 an die gegebenen Verhältnisse und die Vorgaben durch die Besatzung an. Die Lehrer begrüßten uns nicht mehr mit „Heil-Hitler“. Zu unserer Überraschung hieß es nun „Grüß Gott“. Es brauchte nach dem schrecklichen Ende des zweiten Weltkrieges an die fünfzig Jahre, bis eine offene Aussprache über die Zustände im Dritten Reich einsetzte. Damals war es nicht opportun, als Deutscher zur eigenen, nicht nur schmerzlichen Geschichte, vor 1933 zu stehen. Über die Folgen der Besatzung, die Bombardements auf unsere Städte, den Einsatz von Atomwaffen, oder die Vertreibung der deutschen Zivilbevölkerung wurde geschwiegen.
Seit meiner Pensionierung schreibe ich, als Brückenbauer im Blick auf die Mitmenschen und unser Dasein Texte. Geprägt wurde ich im steten Dialog des Zusammenleben mit anderen Menschen. Auch die Tatsache, dass ich es heute wage, über meinen wichtigsten Beruf, ein „Mensch zu sein“, offen zu reden, ist eine Frucht lebenslangen Nachdenkens und der Teilnahme an allem, was mir das Leben zu bieten hatte.
Sehr nahe ist mir dieses Thema in den rückliegenden Tagen begegnet. Zurzeit befinden wir uns bei unserer in Hamburg verheirateten mittleren Tochter und ihren drei Kindern und unserer jüngsten, ebenfalls in Hamburg verheirateten Tochter und unserer lebhaften Enkelin. So bekommen wir auch unter Beachtung der Pandemieregeln zu unserer Freude mit, wie das Leben weiter geht und eine neue Generation das Ruder des Lebensschiffes in die Hand nimmt. Bleiben wir für einen Moment bei diesem wichtigen Geschehen: Mit der Geburt beginnt immer wieder neu die Lebensuhr der Menschen für eine begrenzte Zeit zu ticken. Gesagt ist damit auch, dass es Eltern geben muss, die für das in jeder Hinsicht bedürftige Menschenkind solange Hilfe anbieten, dass es überleben kann. Es muss heute schon gesagt sein, dass es zu unserer vornehmsten Aufgabe gehört, menschliches Leben in jeder Form zu erhalten und weiter zu geben.
Nicht viel erzählte ich in meinen drei Büchern davon, wie schwierig es für mich und alle, mit denen ich zusammen leben durfte, war zu unterscheiden, was für uns gut und böse war und uns das anzueignen was so lebensnotwendig und schön war, um es an die nächste Generation weiter zu geben. Es blieb mir auch lange Zeit nichts anderes übrig, als nach zu ahmen und zu übernehmen, was uns vorgelebt wurde. Sehr spät wurde mir die Erfahrung zuteil, dass es auf mich selbst ankommen würde, was mir als lebenswert erschien. Damit begann ein lebenslanges Lernen und Unterscheiden, dessen, was für mich wichtig werden sollte. Die Vorbilder, die ich in meiner Kindheit vor Augen hatte, blieben nicht auf ihrem Sockel. Auch Ideale und Werthaltungen, die mir vorgelebt wurden, mussten nach und nach auf ihre Brauchbarkeit auf der Esse des Lebens geschmiedet und umgearbeitet werden.
Dies waren für mich ein sehr schwierige Prozesse, denn ich lief Gefahr, immer dann als „Außenseiter“ zu gelten, wenn ich nicht der allgemeinen Meinung voll zu huldigen vermochte. Wer aber will schon gern ein Außenseiter sein. Es begann schon sehr früh, dass ich zum Beispiel alte Menschen oder Bedürftige zu achten begann. Aber auch da erforderte das Leben manche Korrektur: Nicht jede Haltung eines alten Menschen oder eines Bedürftigen schien für mich nachahmenswert. Das, was uns die Lehrer und Vorgesetzten in der Schule im „Dritten Reich“ vermittelten, musste bewertet und neu betrachtet werden. Die Not der Kriegs- und Nachkriegsjahre hinterließen Spuren. Was konnte nach Prüfung Bestand haben, was war als lebensfeindlich auszusondern? Der Umgang mit Kollegen und Vorgesetzten im Berufsalltag führte zu neuen Erfahrungen: Wie funktioniert die Wirtschaft, was muss geschehen, damit Unternehmen am Markt bestehen können und wie werden die Beziehungen der unterschiedlichen Berufsgruppen zu einander geregelt? Was bedeutet im beruflichen Umfeld Verantwortung, Pflichterfüllung, Treue und Hilfsbereitschaft und wie kann das Zusammenleben am Arbeitsplatz human erträglich gestaltet werden Was geschieht, wenn Grenzen nicht beachtet und Menschen missbraucht werden? Wer traut es sich, in diesem Umfeld seine Meinung zu sagen? Das galt früher und sicher zu jeder Zeit.
Ich durfte ein funktionierendes Zusammenleben in den Familien, in der Nachbarschaft in der Gemeinde und in der Stadt erleben. Auch in diesen Bereichen hatten es Menschen mit einander zu tun, die in der Lage waren vorbildlich zu handeln. Es gab aber auch die bitteren Erfahrungen von Unrecht, Gemeinheit und Grenzüberschreitungen. Auf welche Seite sollte ich mich stellen, welche Regeln zum gesellschaftlichen Zusammenleben konnte ich akzeptieren, wer gab mir Halt und Sicherheit beim Unterscheiden und Entscheiden? Es gab sehr viele Gruppierungen, die mit ihren unterschiedlichen Angeboten lockten – Erfahrungen, die ich gerne mit anderen Menschen teilte und Situationen, in denen ich gefordert war, Abstand zu halten. Mit welcher Gruppe und welcher Haltung kann ich mich solidarisieren, wann muss ich eine Gemeinsamkeit beenden, einen anderen Umgang pflegen? Sehr schwere Fragen für junge Menschen auch in unseren Tagen.
Wo bin ich mit meinen Erfahrungen und Kenntnissen in einem Gemeinwesen nützlich und in welcher Form bringe ich mich ein? Wer hilft mir dabei, eine kritische Distanz zu halten, wenn Unrecht geschieht. Wie schütze ich mich vor Unrecht durch andere, welchen politischen Einfluss nehme ich, um die Gesellschaft in meinem Umfeld auch im erwünschten Sinne zu unterstützen? Fragen über Fragen, die einen jungen Menschen manchmal überfordern: Wann kann ich mich noch anpassen, wo und wie überschreite ich selbst Grenzen des Erlaubte? Welche Wertmaßstäbe halte ich für lebenstauglich, was schadet dem Leben. Wie lange kann ich mich in einer Gruppierung halten, wann muss ich an der Veränderung deren Haltungen mitwirken, wann wird es sinnlos, um nicht als „Michael Kohlhaas“ zu gelten? Wann wird es Zeit, sich von einer gesellschaftlichen Gruppe, von Ansichten und Meinungen zu trennen, sich neu zu orientieren?
Fragen über Fragen stellten sich im Lauf des Lebens in immer reicherer Gestalt, und es bleibt selbst im Alter nicht alles beim Alten. Liebgewordene Werthaltungen müssen eine Differenzierung erfahren, wenn die Situation und die Umstände dies erfordern. Mit einer der schwierigsten Aufgaben überhaupt ist es, sich die Kraft eines freien Urteilens in einer zunehmenden Meinungsvielfalt zu erhalten. Wie leicht sind wir dann geneigt, sich der veröffentlichten Meinung ganz anzuschließen? Ja genau dann wird es sehr nötig, sich wieder Menschen zu suchen, mit denen in wichtigen Werthaltungen eine gewisse Übereinstimmung zu erzielen ist. Genau an diesem Punkt taucht aber auch die Frage auf, welche grundsätzliche Wertehaltung, die Zeiten überdauernd, Bedeutung haben muss, und wie erhalte ich mir auch innerhalb dieser Wertegemeinschaft eine gewisse Distanz zu gewissenhaftem Urteil.
Über diese Fragen habe ich, in sehr lebensnaher Weise in meinen drei Büchern Rechenschaft abgelegt und verdeutlicht, welche Haltungen die Prüfung bestanden, um sie als gültige und überdauernde Normen akzeptieren zu können. Einem Wertekanon zu folgen, dem ich im Blick auf das ganze Leben als Geschenk des Daseins beipflichten kann. Ich gestehe offen, dass ich mich als Christ in eine gottgegebene Ordnung einfügen lasse, mir aber auch die Kritikfähigkeit gegenüber meinem eigenen Wertbewusstsein erhalte. Dies gehört wohl zum Schwersten. Zu erkennen wo und wann die eigen Werthaltung das Maß der Barmherzigkeit und Liebe verunstaltet. Sich gerade im Blick auf die eigenen Wertmaßstäbe zu erlauben, dort kritisch zu bleiben, wo diese gegen die Regeln der Lebenserhaltung verstoßen.
Mein ganzes Plädoyer, das ich bisher führte, gipfelt insofern in der unabdingbaren Aufgabe, sich in Verantwortung vor dem eigenen Gewissen, dem Leben und der Lebenserhaltung einen eigenen Standpunkt und eine Standfestigkeit zu sichern, die es erlaubt, im vollen Sinne ein Mensch genannt zu werden. Der Vorbilder, die diese Haltung verdienen, gibt es gelegentlich wenige, in Wirklichkeit aber sind sie in der Geschichte der Menschheit doch eine Vielzahl. Wir finden sie in den Familien, in den Nachbarschaften, in den gesellschaftlichen Vertretern, in der Arbeitswelt, in der Religion, im Glauben, in den Vertretern politischer Überzeugungen, manchmal im Strom der öffentlichen Meinung verborgen als redliche Journalisten in der Wirtschaft, Forschung, Politik und in allen gesellschaftlichen Schichten.
Die Geschichte der Menschheit gibt Zeugnisse von tiefster Schuld, von Verbrechen und Leid, aber auch immer wieder von Verantwortung, Pflichterfüllung Mitmenschlichkeit und Hilfsbereitschaft. Wer aber trägt mit dazu bei, dass unser Leben auf diesem Planeten Erde menschenwürdig und daseinserhaltend gelebt und weiter getragen wird? Wer ermuntert und schult die Menschen in unseren Tagen so, dass sie selbst in die Lage kommen, all das zu beurteilen, zu unterscheiden, festzuhalten und nötigenfalls zu verteidigen, was dem Leben in seiner Gesamtheit und im Miteinander auf unserer Erde dient?
Das Plädoyer für das Leben, wie ich diesen Beitrag betitelt habe, soll nichts anderes darstellen, als einen Versuch, die Bedeutung des eigenen Urteils in unserer, wie in jeder Zeit vor uns hervor zu heben. Aber auch zu zeigen, wie schwer es ein kann – und das war zu allen Zeiten so, die Fähigkeit zur Distanz und zu einem vor dem Gewissen das Leben als Ganzes bewahrenden sittlichen Urteil zu erhalten.