Ganz lieslig sag ich
Dir ins Ohr
mi Muetersproch
all die vertraute Tön
die sin so schön
un des isch wohr
Ganz lieslig sag ich
Dir ins Ohr
mi Muetersproch
all die vertraute Tön
die sin so schön
un des isch wohr
Aus Gottes heiligem Raum
fliehen Schuld und Hassen.
Erfüllte Herzen fassen,
dies ist nicht nur ein Traum.
Die zunächst vage Idee, über eine Reise ins „Unbekannte“ zu schreiben, entstand nach der Lektüre von Stefan Zweigs Biographie über “Honoré de Balzac”. Die Lebensgeschichte dieses französischen Dichters, dem es nach einer sehr belastenden Kindheit und Jugend, um Ruhm und Ehre bemüht, nicht gelang, im bürgerlichen Leben eine gesicherte Existenz aufzubauen, beeindruckte Johannes sehr. Wie es Balzac möglich war, trotz fehlgeschlagener Unternehmungen und erdrückender Schulden, in der „Comedy–Human“, den Höhepunkt seines dichterischen Werkbewusstseins zu entwickeln, wurde oft gewürdigt. Auch Stefan Zweig reihte sich mit seinem literarischen Werk und Leben in die große Zahl der Dichter, Denker und Forscher, Musiker und Künstler ein, die zeitlebens dem „Unbekannten“ auf der Spur blieben.
Als Johannes darüber nachdachte, was diese Autoren und auch ihn zum kreativen Schreiben bewegte, träumte er in der Nacht von einem Kloster. In andächtiger Stille erfüllte ihn unvermutet ein fragloses Glücksgefühl, das sich in den Blicken und Gesten der Mönche spiegelte, und immer mehr vertiefte. Wie von einer Last befreit, folgte er nun dem Gedanken, seine Leser zu einer Reise ins „Unbekannte“ einzuladen und am schöpferischen Prozess des Entdeckens, Denkens und Fabulierens teilnehmen zu lassen.
Johannes schätzte auch die Erkenntnisse der Naturwissenschaften und deren Innovationen sehr, die sich nach ihrem Selbstverständnis primär mit zählbaren, messbaren Tatsachen und in komplexerer Weise, mit genetisch gesteuerten Prozessen befassten. Er hätte vom Leben, den Erfolgen, Enttäuschungen und seiner Dankbarkeit gegenüber diesen Menschen reden können, die sich auf vielfältige Art um bessere Lebensbedingungen für uns bemühten. Wenn er sich aber inmitten dieses Geschehens als ein der Reflexion fähiger, selbstbewusster Mensch in seiner körperlichen, geistigen und seelischen Verfassung verstand, stießen die Vorstellungen der Naturwissenschaften an ihre Grenzen.
Er wusste ja, dass es zu allen Zeiten Menschen gab, die diesen Fragen auch nicht auswichen. Sein Anliegen war es daher, die Leser über den Standpunkt der Naturwissenschaften hinaus, an andere Weisen der Begegnung mit dem „Unbekannten“ im Leben zu erinnern. Er hielt insofern die in den Geisteswissenschaften üblichen Sprachspiele für geeigneter, um menschliches Leben in all seinen Formen als ein Geschenk mit Handlungsspielraum zu verstehen. Die Poeten, Musiker und Künstler gingen zwar in ihren Werken auch von bekannten Vorstellungen aus, überformten sie aber im schöpferischen Prozess in Bildern, Skulpturen, Bauwerken, Tönen und Worten, mit einem nicht minder erfahrbaren neuen, geistigen Gehalt.
Johannes wollte daher die schöpferische Fantasie in seiner Reise ins „Unbekannte“, auf Wegen vorstellen, die zuvor weder als Route noch als Ziel bekannt waren. Er stellte sich und seine Leser damit bewusst vor die Aufgabe, so etwas wie ein Gedicht, oder einen Liebesbrief, mit eigenen Worten und Gedanken, auf ein leeres Blatt Papier zu schreiben. Wer wollte jedoch behaupten, dass derartige Texte oder Liebesbriefe, auch wenn sie nichts konkret Machbares enthielten, unsinnig wären. Und Johannes versicherte glaubhaft, dass er genau in diesem Augenblick noch keine klare Vorstellung davon hatte, wohin ihn nun die Finger auf den Tasten seines Rechners führen wollten.
Er wusste lediglich, dass es sich hierbei nicht um die Lösung einer Mathematikaufgabe handelte, und hoffte, dass ihm in den Tagen des adventlichen Wartens, beim Schreiben die Worte und Sätze einfallen würden, um zu erfahren, wohin heute die Reise gehen sollte. Erst am Ende seines neuen Textes konnte er redlicher Weise feststellen, ob für ihn und seine Leser eine sinnvolle gute Nachricht entstanden war. Natürlich war das ein Wagnis, und Johannes spürte die Anspannung körperlich, zugleich aber auch eine heimliche Vorfreude, unter der Hand eine Botschaft, auf ihm bisher unbekannte Weise entstehen zu sehen. Johannes hatte jedoch erfahren, dass er auch im Alltag nie vor Überraschungen sicher war, und beim kreativen, geistigen Schaffen, gelegentlich Hilfe erfuhr.
Der Anstoß zu der Überlegung, über eine Reise ins Unbekannte nachzudenken, kam ihm ja nach der Lektüre von Stefan Zweigs Biographie über Honoré de Balzac. Wie oft mögen diese Autoren vor einem leeren Blatt gesessen haben, um dann, Wort für Wort ihre Einfälle festzuhalten, unsicher, ob man damals ihre Gedanken positiv aufnehmen würde; um dann, in mühsamer Arbeit, durch viele Korrekturen, ihren Ideen die sprachliche Form zu geben, die vor der eigenen Kritik und in den Augen der Leser, in Treue zum Werk, Bestand hatte.
Auch Johannes benötigte auf seiner Reise ins „Unbekannte“ viele Anregungen anderer Autoren, um zu lernen, den Inhalt eines Textes in die hierfür geeignete Form und Sprache zu kleiden. Manchmal schien es, als liefe ihm die Zeit davon, um sich mit dem literarischen Erbe auch nur annähernd zu befassen. Hierbei sah er sich durch die fortwährende Begegnung mit bisher Unbekanntem, zu einer kritischen Auslese genötigt. Es brauchte eine geraume Zeit, bis er es, einer Anregung folgend, wagte, die ersten eigenen Texte zu veröffentlichen. Die einzelnen Beiträge fügten sich in Form und Inhalt immer mehr zu einer Einheit, die für ihn romanhafte Züge annahmen, in denen er sich als Autor erkannte.
Die erste Fassung seiner Idee, „eine Reise ins Unbekannte“ zu schreiben, hielt seiner Kritik nicht stand. Johannes hoffte aber, dass ihn die Lust an diesem Text weiter zu schreiben nicht ganz verließe, und war gespannt, was ihm hierzu noch einfallen würde. Nach einer längeren Schaffenspause, führte ihn die Neugier und Lust, am Text weiter zu arbeiten, wieder an den Schreibtisch zurück. Johannes hatte ja inzwischen durch Versuche, neue literarische Wege zu erkunden, erfahren, dass sich andere Menschen dafür interessierten. Von da an erlebte er sich als Brückenbauer, der bereit war, mit seinen Lesern in einen offenen Dialog über seine Ideen und Gedanken zu treten. Sein stets waches Interesse, galt dankbar, den vielen neuen Einsichten über das Leben, die ihm zufielen.
Er betrachtete die Dinge, Ereignisse und Menschen nicht mehr nur wie gegebene Tatsachen, um sich darüber im Geben und Nehmen mit anderen Personen auszutauschen. Sie gewannen für ihn zunehmend Bedeutung als Geschenke in ihrer eigenen Schönheit, über die es sich zu reden lohnte. Wer wollte zum Beispiel darauf verzichten, über das stets wieder kehrende Ereignis von Frühjahr, Sommer, Herbst und Winter zu staunen? Wer wünschte sich nicht tragfähige Beziehungen der Menschen in gegenseitiger Treue? Johannes sah immer mehr hinter den Werken der Künstler, Musiker, Poeten, Wissenschaftler und Techniker, viele schöpferische Menschen, die auf den Spuren des Unbekannten waren. Auch das Dasein der Menschen im historischen Gefüge und im Geflecht sozialer Beziehungen, eingebettet in einen für sie unter mikro- und makrokosmischen Bedingungen geeigneten Lebensraum, war nun Gegenstand seines Nachdenkens.
Überall begegnete Johannes nun das bisher “Unbekannte” in Form von Ereignissen, die Menschen in ihren Wirkungen erfuhren, aber nur bedingt beeinflussen konnten. Wer wollte beispielsweise ausschließen, selbst einmal zu erkranken, und dann auf Hilfe angewiesen zu sein? Johannes entwickelte ein neues Verständnis des menschlichen Lebens bis zum Tod, eingebettet in einen fortwährenden Prozess des Gebens und Nehmens. Er schätzte dadurch aber die Menge der geschenkten und erfahrbaren Ereignisse, als unermesslich größer ein, wie all das, was Menschen mit berechtigtem Stolz herstellen und beherrschen konnten. Johannes folgte weiter dieser Spur: Er ließ es zu, dass seine über die Tasten gleitenden Finger, wie von selbst den aus dem Innern andrängenden Gedanken und Gefühlen in Worten und Sätzen ihre Form gaben. Nie wäre dieser Text so entstanden, wenn sich Johannes nur an einen festen, von ihm entwickelten Plan gehalten hätte. Er war nun sicherer, als zu Beginn dieses Beitrages, dass auch ein für die Leser sinnvoller Text entstehen konnte, wenn er weiter zu Papier brachte, was ihn bewegte.
Johannes wurde beim Schreiben immer mehr ermutigt, über das Leben in seiner vielgestaltigen Form zu staunen. Immer mehr war er geneigt, in seinen Texten über das Wunder des Lebens zu schreiben und die Frage zuzulassen: „Warum gibt es das und nicht nichts?“ Es stellte sich ihm die unabweisbare Frage nach dem Sinn, und Ziel, der Ursache, Einheit und Vielfalt aller Lebensprozesse. Drängende Fragen waren das, die ihm die Naturwissenschaften auch mit ihren evolutiv-genetisch ausgerichteten Theorien nicht ausreichend beantworten konnten. Er war bei allem Respekt vor ihren Erkenntnissen, nicht mehr in der Lage, das Wunder des Lebens in seiner Vielgestalt, vor allem im Blick auf den im „homo sapiens“ gipfelnden, geistigen, schöpferischen, und kulturellen Überbau, nur auf das Machbare, und Messbare zu reduzieren. Dies alles konnte ihn nicht mehr hindern, weiter auf der Spur des schicksalhaften „Unbekannten“ zu bleiben, obwohl er zu dieser Zeit noch nicht wusste, wohin ihn die Reise führen würde.
Die Frage nach dem „Unbekannten“ schloss aber, insofern war er sich sicher, alles ein, was es gab und sollte nicht durch den Blick allein auf das „Machbare“ verstellt werden. Zu diesem Ganzen gehörten für Johannes auch die Erfahrung von Grenzen, Ende, Tod und die Frage nach dem Sinn des Lebens und seiner Geschichte auch über den Tod hinaus? Er fand in den Geisteswissenschaften, der Philosophie, Theologie, Religion und im christlichen Glauben, die notwendige Ergänzung zum Weltverständnis der Naturwissenschaften.
Es fiel ihm auf diese Weise immer leichter, zu verstehen, dass er auf seiner Reise ins „Unbekannte“, ein Bewunderer Gottes geworden war, dessen Kunstfertigkeit er als ein mit Leib, Geist und Seele, seiner selbst und der Geschichte bewusster „homo sapiens“, in all seinen Werken entdeckte. Ein Gott, der sich den Glaubenden als Vater, Sohn und Heiliger Geist zu erkennen gab, alles Sein im Dasein erhält, und am Ende der Zeiten in einer neuen Schöpfung zu ihrem Ziel führt. Einen liebenden Gott, der sich in Seinem Sohn als Weg, Wahrheit und Leben zu erkennen gab.
Johannes erzählte von da an in all seinen Geschichten immer auch von einem Gott, als dem Schöpfer und Erhalter des Universums, dem er alles Schöne in seinem Leben und alle Schönheit in der Natur, Kultur und Wissenschaft der Menschen verdankte. Hoffnung, Glaube und Liebe wurden so zu Triebfedern seines Lebens. Er trat damit in das große Warten und Sehnen des Advents der Schöpfung ein, auf die endgültige Begegnung mit dem Dreifaltigen, der sich in Seinem Sohn und Heiligen Geist im Advent jedes neuen Kirchenjahres erfahren und als Gotteskind an Weihnachten, umsorgen, hegen und pflegen lässt. Auch Johannes hoffte, dass er nach dem Ratschluss Gottes, mit seiner schöpferischen Kraft, am Ende der Zeiten in einen neuen Himmel und einer neuen Erde aufgenommen werde.
In einem nachösterlichen Text des Evangeliums, äußerte Thomas, ein Jünger des Herrn, seine Zweifel an der Realität der Auferstehung des Herrn. Er durfte seine Finger in die Wunden des Auferstandenen legen und die Worte hören: “Sei nicht ungläubig sondern gläubig!” Diese Schriftstelle, an die Johannes wie von selbst geführt wurde, legte ein Priester so aus, das es Sinn mache, ja lebensnotwendig sei, an die Botschaft des uns bekannten Herrn, über alle unsere Zweifel und Nöte hinaus, hoffend und vertrauend zu glauben.
Johannes hatte dieses Schlusswort seines Beitrages über eine Reise ins Unbekannte, das ihn in die Nähe des Auferstandenen führte, weder geplant noch erahnt, als er sich an den Rechner setzte, um diesen Text zu schreiben. Wer wollte daher ausschließen, dass sein literarischer Versuch, auch seine Leser ermutigen konnte, auf dem rechten Weg zu bleiben. Johannes freute sich, dass er dem Impuls folgte, an der Hand Stefan Zweigs die Betrachtung über eine Reise ins „Unbekannt“ zu schreiben, als ein Warten im Advent des Lebens, wenn auch nur vorläufig, so doch in der seligen Hoffnung, auf ein noch ausstehendes, aber vom Herrn verbürgtes, endgültiges, letztes Ziel der Schöpfung.
Anmerkung:
Wer sich näher über den aktuellen Stand der naturwissenschaftlichen und geisteswissenschaftlichen Forschung aus christlicher Sicht informieren möchte, dem sei das im Springer Verlag 2016 erschienene Buch von Martin Rhonheimer: Homo sapiens: die Krone der Schöpfung, Herausforderungen der Evolutionstheorie und die Antwort der Philosophie empfohlen.
Der
Hoffnung
Kleid
birgt
alle
Zeit
Ich bin da
rund geschliffen
im Tanz der Wellen
ein Kiesel im Sand
Kinderhände
wortlos tasten
prüfen spielend
seine Form
Geneigten Hauptes
folgt das Herz
den Worten
in Stein
Sofia, die muntere Enkelin, lief wie gewöhnlich, so auch in dieser fantastischen Geschichte einige Schritte voraus. Sie liebte es, die Erste zu sein, der niemand folgen konnte. Der Wanderweg um Oberstdorf führte in einem schattigen Waldstück steil bergab. Sofia hüpfte vergnügt jauchzend die Stufen hinab, die mit Pfählen gesichert waren, um den Wanderern sicheren Tritt zu verschaffen. Mit ihren zehn Jahren war sie bereits eine gute Sportlerin, und bewegte sich nicht nur in den Bergen, sondern auch auf ihrem Einrad und beim Schwimmen sehr geschickt. Ihr vierjähriger Bruder Niclas, wollte der Schwester nicht nachstehen, und drängte unablässig mit der Bitte: »Opa hüpf !, Opa hüpf !…«. Er gab schließlich dem Wunsche nach und hüpfte, so gut er es vermochte, mit dem aufgeregten Knaben die Stufen hinunter. Prustend, mit klopfendem Herzen und hochrotem Kopf, blieb der Opa nach einiger Zeit stehen und überlegte, ob es nicht noch eine andere Weise gab, sich weniger anstrengend fort zu bewegen?
Zum Glück fiel ihm ein, dass er in der Kindheit in Träumen fliegen konnte. Zu Niclas gewendet sagte er bedeutungsvoll: » Dein Opa kann nicht nur hüpfen, sondern auch fliegen! Niclas schaute ungläubig zu ihm empor: »Nur Vögel können fliegen«, behauptete der Enkel hartnäckig. Der Opa entgegnete: »Ich kann aber in Gedanken doch fliegen, und wenn Du recht mutig bist, nehme ich Dich mit. Du musst mir nur auf den Rücken sitzen und Dich an meiner Jacke gut festhalten«. Niclas, immer noch ungläubig, nun aber an diesem Unternehmen höchst interessiert, bot sich zum Fluge an. Der Opa nahm Niclas »huckepack«, machte einige kräftige Bewegung mit Armen und Beinen und hob ab. »Halte Dich gut fest! «, rief er ihm nochmals laut zu. Ohne die Füße zu benutzen, schwebten sie leicht über die Stufen des Weges hinunter. »Schön, kreischte Niclas, Opa, flieg weiter, flieg weiter! « Offensichtlich hatte der Knabe keine Angst. Sicherheitshalber flog der Opa aber mit seinem Enkel dicht über die Stufen, damit ihnen ein Sturz nicht zu sehr schaden konnte.
An einer Wegbiegung hatten sie freie Sicht, und konnten die in der Sonne liegenden Wiesen mit den prächtigen Blumen bewundern, und sogar den vielstimmigen Glockenklang der Rinder auf den Weiden vernehmen. Der Opa ruderte noch einmal kräftig mit den Armen und „hui“, flogen sie, zunächst in Bodennähe, dann aber immer freier wie die Vögel, weit über diese Lichtung hinaus. Es bereitete ihnen einen Riesenspaß, den Aufwind am Hang zu spüren, und in großen Kreisen. wie die Drachenflieger, hin und her zu segeln. Schließlich hatten sie genug, denn es blies ihnen in der Höhe ein kühler Wind um die Ohren.
Der Opa hielt daher Ausschau nach einem geeigneten Landeplatz und setze, als er in der Ferne Segelflugzeuge starten sah, zur Landung an. Man war dort sehr überrascht, als die beiden, ohne Flugzeug fliegend, auftauchten und unbeschadet landeten. Die staunenden Piloten und das Bodenpersonal des Flugplatzes fragten sie staunend: »Wie macht ihr das? « Der Opa antwortete selbstbewusst: »Ich kann von Kindheit an in Träumen fliegen, weiß aber nicht wieso. « Und zum Leiter der Flugschule gewandt: »Sie sind doch alle erfahrene Piloten, und sollten mir erklären können, warum ich fliegen kann? « Sie konnte es nicht. Die beiden bedankten sich nach einer Weile bei den Segelfliegern für die freundliche Aufnahme und das Gespräch, machten sich zu Fuß auf den Weg, und winkten ihnen zum Abschied noch einmal zu.
Gegen den kräftigen Protest von Niclas, gingen sie dann den steilen Höhenweg zurück. Sie fanden Sofia zusammen mit der Familie, die sich zu einer Vesperpause niedergelassen hatte, und erzählten stolz, was sie erlebt hatten. Es wollte aber niemand glauben, dass Opa wirklich fliegen kann. Niclas aber behauptete steif und fest: »Ich bin auf Opas Rücken geflogen und es war wunderschön, auch wenn ihr das nicht versteht! « Zweifelnd, jedoch neugierig geworden, erbaten sich die kräftigen, bergerfahrenen Schwiegersöhne, von Opa einen weiteren Beweis seiner Flugkünste, und sagten: »Wenn Du schon seit Deiner Kindheit im Traum geflogen bist, müsstest Du mindestens noch eine andere Geschichte erzählen können«. »Nichts einfacher als das«, entgegnete er.
Euer Opa war einmal in England und wanderte dort durch Wälder und Felder einer schönen Landschaft, die an diesem sonnigen Tag den Blick weit über die sanften Schwingungen der Hügel bis zur Küste und dem Meer freigab. Vor sich, auf der Höhe, sah er eine Schule. Sie trotzte dort schon lange Wind und Wetter. Die Fenster waren geöffnet und fröhliche Kinderstimmen mit Klavierbegleitung drangen an sein Ohr. Er hatte große Lust, zu erkunden, wie man hier Unterricht erteilt. Je näher er kam, desto weniger hörte er den Gesang. Es schien, als ob inzwischen in einem anderen Fach Unterricht erteilt wurde. Der Opa blieb dennoch bei seinem Vorhaben, ging auf die Schule zu, klopfte an die Türe des Klassenzimmers, und wurde herein gebeten.
Beim Betreten des Klassenzimmers, wollte der erste Eindruck, der sich dem Opa darbot, gar nicht zu den fröhlichen Liedern passen, die ihn angelockt hatten: Eine hübsche, junge Lehrerin, stand an der Tafel, bemüht, etwa dreißig Mädchen und Buben mathematische Regeln zu erklären. Er wunderte sich daher nicht allzu sehr über die teilweise entrückten Mienen der Schüler und deren verzweifeltes Nagen an den Bleistiften. Erinnerten ihn doch der trockene Vortrag der Lehrerin und die gedämpfte Stimmung der Schüler an die eigene Schulzeit.
Nach einer kurzen Begrüßung der Lehrerin und Kinder, erklärte der Opa seinen Wunsch, ein wenig am Unterricht teilnehmen zu dürfen. In gebrochenem Englisch erzählte er, dass er aus Deutschland käme und hier durch diese wunderschöne Landschaft wanderte. Die Lehrerin war einverstanden, bot ihm einladend einen Stuhl an und bat ihn, Platz zu nehmen. Er bemerkte durchaus, dass die Kinder und die Lehrerin, in seinem Besuch eine willkommene Abwechslung erblickten:
Sechzig lebhafte Kinderaugen musterten die Wanderkleidung, die staubigen Schuhe und den großen Rucksack des Opas. Die Lehrerin wandte sich an ihn mit der Frage, ob er auch einen Beitrag zum Unterricht leisten könnte? Er gab zu verstehen, dass er ihren Unterricht in Mathematik sicher nicht überbieten könnte. Seit seiner Kindheit verfüge er aber über eine besondere Gabe, mit der er sie und ihre Schüler erfreuen könnte. Dies setzte aber voraus, dass der Unterricht in Mathematik für eine kleine Weile unterbrochen würde. Die Kinder horchten auf und die Lehrerin schien überrascht. Sie stellte sich aber sehr schnell auf die neue Situation ein und fragte, was er denn anzubieten hätte? Erst nach einer befriedigenden Antwort vermöge sie zu entscheiden, ob sie die Erlaubnis geben könnte, den Unterricht zu unterbrechen. Alle Augen richteten sich auf den Opa: Er stand auf, machte mit den Armen einige Schwimmbewegungen und sagte in die erwartungsvolle Stille: »Ich kann hier fliegen! « Der Lehrerin verschlug es für einen Moment die Sprache. Einigen Kindern blieb für Sekunden der Mund offen stehen. Dann kamen die ersten Reaktionen: »Das ist nicht möglich, nur Vögel oder Flugzeuge können fliegen! « »Sie wollen doch nicht behaupten, dass Sie hier einfach in der Luft schweben könnten? «, äußerte die Lehrerin. »Einfach das natürlich nicht«, gab er zur Antwort. Er könnte aber, wenn er mit Armen und Beinen kräftig ruderte, seit seiner Kindheit in der Fantasie fliegen.
»Fliegen, fliegen, fliegen! «, schrien die Kinder im Chor und durch einander.» Auf Ihre eigene Verantwortung«, sagte die Lehrerin. Unter heftigem Geschrei, Strampeln und Klatschen der Kinder ging der Opa zum Start kurz in die Knie, stieß sich kräftig ab, machte zunächst mit den Armen, dann auch mit den Beinen, einige kräftige Bewegungen, und erhob sich unter dem ohrenbetäubenden Lärm der Kinder in die Luft. Dicht am Kopf der Lehrerin vorbei, steuerte er hinauf zur Decke, drehte einige Runden, segelte auf und nieder, sodass die Kinder in den Schulbänken ihre Köpfe einzogen, und flog durch ein offenes Fenster hinaus.
Es bereitete ihm große Freude, den Aufwind zu spüren und im Gleitflug den Blick über die sich auf und absenkenden Felder und Fluren bis hin zur Küste mit den anstürmenden Wellen zu genießen. »Juchhe und hurra« schrie er laut in den Wind, der sein Rufen zur Schule trug. Dort klebten die Lehrerin und Kinder an den Scheiben und ließen nur ein Fenster offen, durch das der Opa hinausgeflogen war, damit er auch wieder sicher landen konnte. Einige Male flog er ganz nahe an der Schule vorbei, um die begeistert winkende Horde zu grüßen. Schließlich setzte er in einem weiten Bogen zur Landung an, steuerte durch das offene Fenster, drehte noch einmal eine Runde durchs Klassenzimmer und landete unter großem Beifall.
Aus Anlass seines Geburtstages, schlug der Opa dem kleinsten Schüler vor, wenn er keine Angst hätte, dann könnte er mit ihm eine Runde durchs Zimmer zu fliegen. Alle Kinder bedrängten ihn: »John, fliege, John, fliege! « Der Junge stimmte nach einigem Überlegen zu. Euer Opa nahm ihn dann auf den Rücken mit dem Hinweis, sich gut festzuhalten, ging in die Knie, und hob mit einem kräftigen Ruck ab. Die Schüler tobten und die Lehrerin hielt sich vor Schreck die Hände vors Gesicht. Er flog auf und nieder, hin und her, bis er ein deutliches Zittern des Knaben verspürte. Unbeschadet landeten beide direkt vor der großen Tafel, neben dem Pult der Lehrerin.
John japste nach Luft und war ganz grün im Gesicht. Der Opa beugte sich zu ihm hinunter, um ihn vor allen Schülern für seinen Mut zu loben. Doch da nahte das Unheil: John atmete noch einmal tief durch. Dabei rumorte es vernehmlich in seinem Bauch und ehe er sich zur Seite wenden konnte, bekam Opa einen Teil seines Frühstücks ab. » He, das gefällt mir gar nicht, warum spuckst Du mich einfach an«, fuhr es aus ihm heraus! John sah ihn entwaffnend mit großen, erschrockenen Augen an und stammelte: „ Das ist mein – mein – mein Geschenk für Dich zum Geburtstag! « Der Opa war sprachlos. Und als alle Kinder in den Kanon einfielen: »Viel Glück und viel Segen auf all Deinen Wegen…, drückte er den leicht widerstrebenden Knaben an sich und sagte tröstend zu ihm: »Es ist alles wieder gut! « Notdürftig gereinigt, nahm der Opa seinen Rucksack wieder auf, und verabschiedete sich unter dem Beifall der Schüler. Die freundliche Lehrerin wünschte ihm für weitere Flüge »Hals und Beinbruch«.
Die Wander-Familie, selbst die Schwiegersöhne, waren nach dieser Erzählung überzeugt, dass Opa fliegen kann, wenn nicht wirklich, so doch in seiner Fantasie. Auch Sie, liebe Leser, könnten wie unser Opa, ohne Schaden zu nehmen oder anderen Schaden zuzufügen eine fantastische Geschichte gestalten. Die Konstrukteure der ersten Flugzeuge träumten ja zunächst auch nur vom Fliegen, um dann Flugzeuge zu bauen, mit denen Menschen auch heute weltweit unterwegs sind. Sollten Sie, liebe Leser, es aber in Ihrem nächsten Urlaub einmal vorziehen, Städte oder Regionen der engeren Heimat zu erkunden, dann wünscht Ihnen der Opa viel Vergnügen dabei.
Schätze treibt der Wind zum Tanz
Zweige sich verneigen
alles windet sich zum Kranz
im Liede soll es bleiben
Die Menschen, Felder und Wälder um Oppenweiler, geben ihre Schönheit nicht so leicht preis. Wer aber bereit ist, sich auf diese Region einzulassen, dem wird sie mit der Zeit zur bergenden Heimat. Einige von Ihnen, liebe Leser, werden den Weg das Tal hin, durch den Wald hinauf zum Eschelhof, und über Zell zurück kennen. Ein Wanderer ging oft diesen Weg. Wald und Flur nahmen ihn gefangen, und zerstreuten zuweilen alle Sorgen.
Beim Spaziergang an einem sonnigen Herbsttag sah der Mann vor sich eine Frau mit Kinderwagen und einem wuseligen, neugierigen Hund. Näher kommend, erkannte er die junge Frau wieder. Er hielt an, begrüßte die stolze Mutter und fragte, ob sie ihm erlaube, ihr Kind anzuschauen? Sie nickte zustimmend mit dem Kopf. Behutsam beugte er sich über den Kinderwagen und war beglückt, dem Kind ein Lächeln zu entlocken. Eine kleine Weile bewunderte er das rosige Gesicht und die weltoffenen Augen des Kindes. Es brauchte keine weiteren Worte, als sich der Mann, reich beschenkt, von der glücklich lächelnden Mutter verabschiedete, und seinen Weg fortsetzte.
Der Wanderer ließ nun den befestigten Teil der Strecke hinter sich, sichtlich zufrieden, einen den Füßen angenehmeren Waldweg zur Anhöhe hinauf gehen zu können. Seine betagten Wanderstöcke, die er früher in den Bergen benutzte, erinnerten ihn daran, es ruhig angehen, und die Natur auf sich wirken zu lassen. Da hörte er von fern die Geräusche einer Motorsäge. Als der Mann näher kam, erkannte er ein älteres Ehepaar, das sich abmühte, eine über den Weg gefällte Tanne zu zerlegen. Er hielt an, denn diese am Ort ansässigen Bauern waren ihm sehr sympathisch. Der Wanderer begegnete ihnen oft bei der mühevollen Arbeit in Feld und Wald und bewunderte ihre Treue zur Scholle, obwohl ihr Lebensweg sich dem Ende zuneigte. Sie begrüßten sich freundlich. Als der Wanderer bemerkte, dass den Alten eine Gesprächspause willkommen schien, erinnerte er sich an seine Verwandten, die sich als Bauern ähnlich verhalten hatten. In diesem Augenblick war er sich aber nicht mehr sicher, ob sein Herz diesem Ehepaar, das er seit Jahren kannte, oder seinen Verwandten, die er stets in Ehren hielt, mehr gewogen war. Der Mann bemerkte die körperliche Schwäche der geschäftigen Alten und fragte, warum sie sich in ihrem Alter, diese schwere Arbeit zumuteten? Sie hätten doch verdient, es ruhiger angehen zu lassen. Da schaute ihn die Bäuerin verständnislos an und hatte Tränen in den Augen, als sie antwortete: „Das machen wir einfach so!“ Der Wanderer hatte nicht bedacht, wie sehr dieser Frau die Pflege ihres Mannes und Waldes an´s Herz gewachsen waren. Respektvoll und etwas verlegen, löste er sich daher aus dem Gespräch, verabschiedete sich freundlich, und freute sich darauf, von der Bäuerin wieder einmal ein selbst gebackenes Brot geschenkt zu bekommen.
Nachdenklich setzte der Mann seinen herbstlichen Spaziergang fort. Er hielt erneut an, als er unversehens vor einer mächtigen Buche stand. Viele Jahre behauptete sie schweigend und stolz ihrem Platz neben anderen Bäumen, und wartete darauf, gesehen und bemerkt zu werden. Bis weit ins Geäst hinauf hatte sie an der Wetterseite Moos angesetzt. Als er staunend an ihr empor blickte, erschien sie ihm mit ihrem Blattwerk, wie ein prächtiger, gotischer Dom, dessen Vielfalt nicht zu fassen war. In stiller Bewunderung begann der Wanderer mit der Buche Freundschaft zu schließen und wünschte sich, dass die Buche verstehe, warum er sie nie mehr vergessen würde.
Eine gute Wegstrecke weiter rief der Mann überrascht aus: „Ein Wunder!“ Ein schöner Strauch in herbstlichen Farben hatte seine Aufmerksamkeit gefesselt. Fragt aber bitte den Mann nicht, zu welcher Art dieser Strauch zählte. Er könnte diese Frage gar nicht beantworten. Ihn faszinierte etwas ganz anderes, denn die Blätter des Strauches waren mit unzähligen Tautropfen geschmückt, die wie Perlen im Sonnenlicht glänzten. Es war eben kein gewöhnlicher, sondern ein kostbarer Strauch. Nun war der Wanderer auf weitere Überraschungen eingestellt:
Er geriet erneut ins Staunen und blieb unwillkürlich stehen. Stellt Euch die untergehende, goldene Herbstsonne, mit ihrem milden, und doch so kräftigen Licht vor. Ihr ging der Mann entgegen. Nun just, in diesem Augenblick, schenkt sie dem Wanderer ein besonderes Erlebnis: Sie blinzelte ihm verstohlen durch die Blätter einer Buche zu. Das verwirrte seine Sinne, denn er konnte nicht mehr genau unterscheiden, ob die Sonne, schwabberte oder ob die Blätter der Buche, die sich leicht im Winde drehten, diesen Eindruck hervorriefen. Wer hätte gedacht, dass der Mann dieses Erlebnis vergessen könnte? Aber warum sollte er auch einen so glücklichen Augenblick vorzeitig zu Grabe tragen? Wie ein Lausbub, genoss er nun seine herbstliche Wanderung, und freute sich bei jedem Schritt am Rascheln der trockenen Blätter
Wie so oft bei Wanderungen um Oppenweiler, kam ihm nun auf seinem Weg die Burg Reichenberg vor Augen. Auf wunderliche Weise schien sie ihm aber wie verwandelt. Sie hatte sich im diesigen Licht der Abendsonne in ein feierliches, moosgrün-goldenes Gewand gehüllt. Diese Erscheinung berührte den Wanderer so, dass ihm der Gedanke völlig fern lag, zu klären, welches Naturgesetz diesen Zauber hervorgerufen haben könnte. Einige Schritte weiter hatte die Burg ihr Gewand wieder gewechselt, und schien nun wie in einen kostbaren goldroten Mantel gekleidet. Nie zuvor hatte er bemerkt, dass sich die Burg wie ein Chamäleon verwandeln konnte.
Als der Wanderer dann in die Ebene hinab stieg, und der Reichenberg wieder seine Aufmerksamkeit beanspruchte, war er ein wenig enttäuscht. Die Burg hatte all ihre Farbenpracht abgelegt und stand, wie seit alten Zeiten, den Wanderern in ihrem bräunlichen Gewand als Wächter und Begleiter zur Seite.
Vor Jahren entschloss sich im fernen Osten eine junge Frau, nach reiflichen Überlegungen, in ein Kloster einzutreten. In ihrer Familie hatte sie Geborgenheit, Liebe und christlichen Glauben erfahren, und war daher auf ein Leben in einer religiösen Kommunität gut vorbereitet. Dennoch fiel ihr der Abschied von den Eltern, Geschwistern und ihrer Heimat schwer. Zur vereinbarten Zeit klopfte sie mit ihrer geringen Habe an die Pforte des Klosters. Man erwartete sie bereits, und eine freundliche Schwester wies ihr ein sparsam möbliertes Zimmer zu. Von da an nahm sie, der Regel gemäß, als Novizin auch am Stundengebet und der täglichen Heiligen Messe teil.
Die Gemeinschaft mit den Schwestern erleichterten es ihr, sich an ihre Aufgaben im Klosteralltag zu gewöhnen, und ihrer Berufung treu zu bleiben. Die Zukunft lag nun gestaltungsfähig, wie noch unbeschriebene Seiten ihres Lebensbuches, vor ihr. Oft hielt sie den Rosenkranz ihrer Mutter in Händen und brachte alles, was sie erhoffte und befürchtete, im täglichen Gebet vor Gott. Zu dieser Zeit konnte sie noch nicht erkennen, welche Aufgaben sie einmal als Ordensschwester übernehmen sollte.
Im Grunde ihres Herzens war sie aber ein fröhlicher Mensch, und vertraute darauf, dass Gott, der Herr, alles schon zum Besten lenken werde. In ihrer Jugend wurde die Novizin jedoch nicht auf Rosen gebettet, und hatte in einer großen Familie gelernt, Freude, Not und Entbehrungen mit anderen zu teilen. Klein von Gestalt, ließ ihr aufrechter Gang Energie und Zielstrebigkeit erkennen. Neugier und waches Interesse an allem, zeichneten die junge Frau aus. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit, reagierte sie gern mit einem befreienden Lachen. Durch ihr offenes und unaufdringliches Wesen, erleichterte sie es anderen Menschen, ihr vertrauensvoll zu begegnen. Man konnte ihre Lebensfreude und Zuversicht bemerken, wenn sie bei den täglichen Aufgaben ein Lied summte, oder ein Lächeln über ihr hübsches Gesicht huschte. Im Alltag gewannen Personen im Kontakt mit ihr leicht den Eindruck, dass die Novizin aber auch zupacken konnte, wenn es die Umstände erforderten. Sie erfuhr immer wieder Trost, wenn sie auf dem langen, manchmal beschwerlichen Weg durchs Noviziat, bis zur Einkleidung als Ordensschwester, den Rosenkranz ihrer Mutter im Gebet durch ihre Finger gleiten ließ.
Eines Tages rief sie die Oberin zu sich und richtete an die junge Schwester die Frage, ob sie sich vorstellen könne, in Zukunft als Krankenschwester in Deutschland zu arbeiten? Sie atmete erleichtert auf, als sie vernahm, dass sie ausersehen war diesen Dienst zu übernehmen, und entschied nach kurzem Bedenken, die Aufgabe anzunehmen. In der nun folgenden Ausbildung zur Krankenschwester stellte sie wieder ihre Zielstrebigkeit und Ausdauer unter Beweis.
Manche Stunde verweilte die Schwester zur Vorbereitung auf ihren Dienst in Deutschland im stillen Gebet. Ermutigend war für sie die Gewissheit, fern der Heimat erwartet, und in eine Gemeinschaft mit anderen Schwestern, aufgenommen zu werden. Zuvor galt es aber noch, die schwierige deutsche Sprache zu erlernen, um sich mit den Patienten ausreichend verständigen zu können.
Als die Schwester dann eines Tages im Flugzeug saß, über all das, was man von ihr erwartete nachdachte, und die geliebte Heimat ihren Blicken entschwand, vermochte sie die Tränen nicht mehr zu unterdrücken. Sie konnte in diesem Augenblick jedoch nicht sicher erkennen, ob die Tränen Ausdruck des Abschieds oder der Freude über ihre neue Aufgabe waren. Sie schämte sich aber dieser Gefühle nicht, umklammerte den Rosenkranz, und trocknete ihr Gesicht ab. Als sie sich danach im Flugzeug umsah, bemerkte sie eine tröstliche innere Nähe zu den Menschen, die auch zu ihren Zielen unterwegs waren. Nach einem ruhigen Flug kam die Franziskanerin wohlbehalten in Deutschland an, lebte sich bei ihren Mitschwestern ein, und trat froh und zuversichtlich ihren Dienst an.
Ein kleines, munteres Mädchen, saß mit ihrer Mutter auf einer Bank im Wartezimmer des Krankenhauses. Die Franziskanerin kam mit den Besuchern ins Gespräch und erzählte auf deren Nachfrage, dass sie aus Indien komme. Die Schwester freute sich darüber, dass es ihr schon möglich war, der Unterhaltung von Mutter und Tochter zu folgen und ihre Kenntnisse der deutschen Sprache hierzu ausreichten. Schutz suchend, eng an ihre Mutter gedrängt, stellte das Mädchen neugierig und aufgeregt die Frage, warum diese Frau neben ihnen, einen so komischen Hut auf dem Kopf habe? Die Mutter versuchte dem Kind mühsam zu erklären, dass dies kein gewöhnlicher Hut, sondern ein Teil ihrer Ordenskleidung sei. Mit großen Augen staunte das Mädchen, die Schwester an. Die Franziskanerin erkannte nun die Chance, dem Mädchen die Frage in deutscher Sprache zu beantworten. Es war in dieser Situation ja nicht erforderlich, komplizierte Zusammenhänge zu erläutern. Sie unterbrach aber für einen Augenblick ihr Gespräch mit dem Mädchen und sagte, sie habe soeben einen zur Aufnahme angemeldeten Patienten gesehen, den sie begrüßen und zu seinem Zimmer begleiten müsse.
Unsicher um sich blickend, betrat dieser Patient am Arm seiner Frau den Speisesaal der Klinik. Nach einem chirurgischen Eingriff, war es bei ihm erforderlich, die Folgen dieser Operation diagnostisch zu klären. Der Patient beruhigte sich wieder, als die Franziskanerin ihn lächelnd begrüßte, und sich erbot, ihn zu seinem Zimmer zu begleiten. Zurecht führte diese Schwester den Namen „Joyce“, denn sie war unaufdringlich und freundlich um das Wohl der kranken Menschen bemüht.
Erst, als sich der Patient wieder zu Hause in seiner gewohnten Umgebung befand, konnte er sich eingestehen, dass ihn die Untersuchungen trotz der guten Pflege in der Klinik belastet hatten. Noch mehr berührte ihn aber der Verlust seines eigenen, mit vielen Erinnerungen verbundenen Rosenkranzes. War er ihm doch im Laufe der Jahre zu einem wertvollen Begleiter geworden. Ein Gesätz dieses Rosenkrankes zur Nacht gebetet, genügte ihm, um in allen Lebenslagen, in die Ruhe und Geborgenheit eines erholsamen Schlafes zu finden.
Umgehend setzte sich der Patient mit der Schwester „Joyce“ in Verbindung mit der Bitte, sie möge nachforschen, ob sein Rosenkranz in der Station gefunden wurde. Er fand sich nicht. An Stelle dessen erhielt er nach einigen Tagen einen Brief von der Schwester. Er enthielt zu seiner Freude einen neuen Rosenkranz, den sie ihm wohl in Vertretung des „Heiligen Antonius“ schenkte, der von frommen Menschen angerufen wurde, wenn sie einen Verlust zu beklagen hatten.
Einige Wochen später, betrat die Frau dieses Patienten lachend ihr Wohnzimmer, öffnete die rechte Hand und versicherte, dass sie soeben den Lieblingsrosenkranz ihres Mannes wieder in der Waschmaschine gefunden habe. Mit Olivenöl eingerieben, nahm er auch seine ursprüngliche Farbe wieder an, die durch Waschvorgänge gelitten hatte. Seit dieser Zeit besaß der Mann nun zwei Rosenkränze, die ihn als Geschenke an seine Mutter, und die liebenswerte Schwester „Joyce“ erinnerten.
Nach einem tiefen, gesunden Schlaf, befiel Habenichts eine innere Bewegung wie vor einem wichtigen Ereignis. Er wollte daher die Augen noch nicht öffnen, obwohl die Sonne schon zaghaft den Tag in ein freundliches Licht tauchte. Zu schön und kostbar war das, was sich seinem geistigen Auge darbot. In staunender Betrachtung verfolgte er das Werk eines inneren Künstlers, der Bild an Bild zu reihen vermochte:
Habenichts befand sich noch träumend, im hohen Mittelschiff einer himmelwärts weisenden, gotischen Kathedrale. Tief beeindruckt von den Altären und Kunstwerken, verweilte er in einer Kirchenbank. Da bemerkte er in einer Seitenempore, einen betenden Mönch, der mit gesenktem Kopf, das den Raum füllende Orgelspiel in sich aufnahm.
Plötzlich schien es Habenichts, als könne auch er die Orgelklänge hören, die sich mit den hochstrebenden Pfeilern des gotischen Innenraumes, zu einem feierlichen Lobgesang vereinigten. Und es weitete sich sein innerer Blick: Er erinnerte sich an die schönsten Augenblicke seines Lebens, in denen er die Nähe Gottes fühlen durfte. Der Gesang und die Musik schienen nun, wie auf Engelsflügeln, den Kirchenraum zu verlassen. Alles sollte jetzt mitsingen, dachte Habenichts, in seiner kindlichen Freude, die ihn ergriff.
Was hatte er doch für wunderbare Ohren: Die Sterne begannen zu klingen, die Quellen und Wasserläufe stimmten auf ihre eigene Weise mit ein. Der Wind bewegte, wie von Geisterhand, Blätter und Büsche zu einem einzigen großen Rauschen. Die Tier und alle Lebewesen konnten nicht ruhig bleiben. Auch die im Osten aufgehende Sonne stimmte in den Lobgesang mit ein.
Habenichts fühlte sich in seinem Federbett ruhend, von wunderbaren Geschenken überschüttet. Er wagte es noch nicht, zu erwachen, um ja nichts von diesem Erlebnis zu versäumen. Still, im ruhigen Atmen, war er bereit, all das Schöne geschehen zu lassen. Es schien ihm, als wäre das ganze Universum ein einziger großer Gesang und er, berufen, seine Freude hinauszujubeln.
Raum und Zeit verlor ihr Maaß. Habenichts vernahm die Musik aller Zeiten von Frauen, Männern und Kindern, die in den feierlichen, Gesang einstimmten. Seine feinen Ohren hörten sogar die Melodie der Sprache und Werke aller Menschen. Nichts und niemand sollte vom weltumspannenden Lobgesang ausgeschlossen sein. Auch Habenichts stimmte erwachend, und vor Freude zitternd, zunächst leise, und dann mit immer festerer Stimme in den Sphärengesang: „Ad Deum ad Dominum, ad Deum ad Domininum, ad Deum ad Deum oramus!“ ein.