St. Pirmin

Das Spätberufenen-Seminar St. Pirmin in Sasbach, hatte im April 2009 zum 50-jährigen Bestehen eingeladen. Aus diesem Anlass feierten die ehemaligen Abiturienten, Lehrer und Schüler, mit dem Freiburger Erzbischof Robert Zollitsch, einen Dank-Gottesdienst. In erfreulich großer Zahl kamen die Geladenen. Damals bestand noch die Hoffnung, dass St. Pirmin auch in Zukunft eine prägende, katholische Bildungseinrichtung bliebe. Prof. Dr. Münk wies in einem profunden Festvortrag nach, wie dringlich wissenschaftliche Beiträge zur aktuellen Werte- und Ethikdiskussion in unserer Gesellschaft aus christlicher Sicht seien. Als Spätberufener erarbeitete er sich in Sasbach einst den Zugang zu seiner universitären Laufbahn.

Vor nun bald fünfzig Jahren verabschiedete sich unser Kurs mit dem Reifezeugnis in Händen, von St. Pirmin. Unvergesslich blieb aber die Zeit, die wir auf dem Weg zum Abitur, im Seminar St.Pirmin erlebten. Es entstanden in dieser Zeit Freundschaften, die sich auch in den Jahren danach bewährten, und uns mit allen, die mit dazu beitrugen dieses Ziel zu erreichen, verbanden. Eine Inschrift über dem Eingang zur Heimschule Lender, die auch jeder Pirminer kennt, bringt das Wesentliche auf den Punkt. Sie lautet in goldenen Lettern:

»INITIUM SAPIENTIAE TIMOR DOMINI«.

Lange bevor das Spätberufenen-Seminar gebaut wurde, grüßte dieser prägnante Text den Betrachter. Bei jedem Aus- und Eingang, so wie auch anlässlich des 50. Jubiläums, ging der Blick nach oben zu den Worten, die wie ein Wegweiser, der Heimschule Lender und dem Spätberufenen-Seminar St.Pirmin die Richtung vorgaben.   Man möge es dem Referenten nachsehen, wenn er bei dem großen zeitlichen Abstand zur Schulzeit mit einem freundlichen Blick auf unser ehemaliges „zu Hause“ schaute, und daher wenig Anlass zur Kritik empfand.

Mit dem Satz: „Sasbach, ein kleiner Ort in der Rheinebene“, lernten wir im Deutsch-Unterricht die Bedeutung einer Apposition kennen, die näher bestimmte, wo Sasbach lag; eben nicht auf der Höhe, wie „Sasbachwalden“, sondern zu Füßen der Berge in der Nähe von Achern in Mittelbaden. Der Ort mit katholischer Kirche war landwirtschaftlich geprägt und konnte mit einigen Gasthäusern aufwarten, deren reichliches Angebot an Speisen und Weinen die Pirminer und Besucher zu schätzen wussten. In der Ortsmitte, etwas abseits der belebten Straße, unweit des Friedhofes, lag der langgestreckte, rechteckige Bau des Seminars.

Über die einladend breite Treppe gelangte man durch die meist offene Pforte zu den zweckmäßig eingerichteten Zimmern der Seminaristen. Im Eingangsbereich befand sich ein Mosaik, das den Patron des Hauses „St. Pirmin“ darstellte, der zu seiner Zeit segensreich im Süden Deutschlands wirkte, und einige Klöster gründete. Im Untergeschoß lud eine kleine Kapelle zu Gebet und Meditation ein. In Silber getrieben, zeigte dort Johannes der Täufer auf dem Tabernakel mit ausgestrecktem Arm, auf den, der nach ihm kommen sollte. In einigem Abstand davon, befand sich unser Freizeitraum, in dem wir auch mit Seminaristen anderer Kurse ins Gespräch kamen. Fuhr man mit dem Auto in einer kleinen Schleife vor, dann befand man sich direkt vor dem Wohnhaus des Rektors mit dessen Diensträumen.

Die lange Zeit der Vorbereitung auf den Eintritt in das Seminar, verbunden mit der bangen Frage, ob ich die Aufnahmeprüfung bestand, und die Zustimmung des Erzbischöflichen-Ordinariats in Freiburg erhielt, war zu Ende. Es fiel mir ein Stein vom Herzen, als ich die Postkarte mit dem Bild des Gebäudes und der Nachricht von Rektor Oberle in Händen hielt, mich am 2. Mai 1962 in Sasbach einzufinden.

Wir „Neuen“ begannen unseren gemeinsamen Weg, wie später nach jeder Rückkehr aus den Ferien, mit einer -Statio- zusammen mit Rektor Oberle vor dem Pirmin-Mosaik; danach begrüßten einander. Die zunächst überraschende Tatsache, dass ich mit zweiunddreißig Jahren, beim Eintritt in die Untertertia, bedeutend älter war, als die anderen Seminaristen, spielte im Alltag bei ähnlichen Aufgaben und Problemen, bald keine Rolle mehr. Ich richtete mich in dem mir zugewiesenen Zimmer in der Nähe des Eingangs ein, und fand einen gut einsehbaren Platz für das Geschenk meiner ehemaligen Kollegen einer Bauunternehmung: Eine als Kreuzigungsgruppe aus Bronze gestaltete Wandtafel.

Anderntags nahmen wir zum ersten Mal am Unterricht teil. Alles war bestens vorbereitet. Dies galt übrigens für die ganze Schulzeit. Eine präzise Planung, die es ermöglichte, nach den Ferien störungsfrei mit dem Unterricht zu beginnen, gehörte zum Stil dieser Schule. Ob unsere Lehrer, nach längerem Urlaub, tatsächlich so ausgeruht und frisch waren, wie sie uns erschienen, blieb deren Geheimnis. Der erste Schultag war von der bangen Frage begleitet, ob wir bei den Lehrern, die wir noch nicht kannten, mit Unterrichtsbedingungen rechnen durften, die unserem Alter entsprachen. Aus verschiedenen Berufen und Aufgabenbereichen, schlüpften wir ja übergangslos wieder in die Rolle von Schülern, die sich auf Klassenarbeiten vorbereiteten, und unsicher waren, ob das Leistungsvermögen ausreichte, um dem Unterricht zu folgen. Ich beruhigte mich aber wieder, als ich nach Wochen mit einem ersten, ordentlichen Zeugnis, in die Sommer-Ferien entlassen wurde.

Mit Rektor Oberle hatte ich während der Jahre in St. Pirmin oft Gespräche zu führen. Meine damalige Aufgabe als Klassen- und Haussprecher, gab dazu Anlass. Unsere persönliche Beziehung war von Respekt und Wohlwollen getragen, das auch seiner Schwester, die ihm den Haushalt führte, galt. Rektor Oberle war uns in seiner stets unaufdringlichen Präsenz, ein priesterliches Vorbild. Wir schulden ihm dafür Dank, dass er uns, wie ein guter Kamerad, auf Schritt und Tritt zur Seite ging. Im anregenden Religionsunterricht, lernten wir ihn näher kennen. Er hatte für unsere Probleme und schulischen Sorgen stets ein offenes Ohr, und ließ selbst dann, wenn ihm Grenzen gesetzt waren, Verständnis und Anteilnahme für uns spüren. Rektor Oberle bestätigte im schulischen Alltag, dass man mit ihm für den Dienst in St. Pirmin eine gute Wahl getroffen hatte:

Als Erster spazierte er morgens um unser Haus. Wir konnten sicher sein, dass sein Brevier Gebet auch unsere Anliegen einschloss. Wenn ich spät abends, müde und ausgelaugt, in der Hauskapelle vor dem Allerheiligsten kniete, um dem Herrn Freude und Not eines Tages anzuvertrauen, kam Rektor Oberle, still und leise, wie es seine Art war, und kniete sich als Letzter hinter mich. In diesen stillen Stunden habe ich unseren Rektor lieben und schätzen gelernt, und mich später oft an unser gemeinsames Beten erinnert. Nie ergab sich aber die Notwendigkeit oder Gelegenheit, ihm zu sagen, wie viel er mir als Freund und Priester bedeutete. Konnte ich doch, auch ohne seine Präsenz, so wie jetzt, oft ein tröstendes Wohlwollen spüren, als bete er, wie früher, still und leise hinter mir.

Ich schaute aus dem Fenster und sah ihn kommen: Mit raschen,federnden Schritten, strebte ein schlanker, sportlich wirkender Mann, in aufrechtem Gang der Wohnung von Rektor Oberle zu, der mit einladendem Lächeln, den Gast erwartend, bereits an der geöffneten Wohnungstüre stand. Der Besucher, mit auffallend kurzem Haarschnitt und akkurat gezogenem Scheitel, trug eine einfache Aktentasche bei sich. Man hätte ihn für einen Offizier in ziviler Kleidung halten können, der zum Rapport strebte. Die Begrüßung der Beiden war kurz und herzlich. Ihre Gesten vermittelten den Eindruck, als ob sie sich gut kannten, und in ihren Angelegenheiten an einem Strang zogen. Die nachfolgenden Begegnungen und Erfahrungen mit Dr. Guldenfels, unserem schulischen Leiter, bestätigten diesen ersten Eindruck:

Es sprach sich unter den Seminaristen herum, dass er fähig und bereit war, uns schulisch so zu fördern und zu fordern, dass wir Lust bekamen, mit einander um die Plätze rangelnd, unsere Fähigkeiten zu erproben und einzusetzen. Dr. Guldenfels blieb sich und seinem hohen Anspruch, uns Spätberufene mit bestem Rüstzeug zu einem erfolgreichen Studium auszustatten, treu. Am guten Ruf des Seminars und an den ausgezeichneten Ergebnissen der Abiturienten St. Pirmins, hatte unser schulischer Leiter, das kompetente Lehrerkollegium und der Leiter des Seminars Rektor Oberle, erheblichen Anteil.

Dr. Guldenfels übernahm zu all seinen vielfältigen Aufgaben als Schulleiter, während vieler Jahre die Redaktion des „Sasbacher“. In unserer Schulzeit und in den Jahren danach, half uns dieses jährlich erscheinende Buch, das Geschehen in der Heimschule Lender und in St. Pirmin zu verfolgen. Die vielen, von ihm selbst geschriebenen Artikel, gaben Einblick, wie sehr er seine Kollegen schätzte, die konzeptionelle Entwicklung der Schule förderte, seine vielfältigen Interessen einbrachte, und auf eine repräsentative Darstellung gesellschaftlicher Ereignisse im Schuljahr Wert legte.

In allen, meist kurzen Gesprächen, die wir mit einander führten, erwies sich Dr. Guldenfels als engagierter, wertebewusster, katholischer Christ, der seinen Aufgaben verpflichtet, wenig Neigung verspürte, über sich selbst zu sprechen. Umso mehr verstand er es, in seinen Beiträgen und Nachrufen, die Fähigkeiten und Verdienste der Menschen zu würdigen, die sich im Geiste des Gründers der Heimschule „Xaver Lender´s“, in der Förderung der Schüler ausgezeichnet hatten. In der Festschrift: „25 Jahre Seminar St. Pirmin (1959-1984)“, empfahl er den Seminaristen, alle körperlichen und seelischen Kräfte zu wecken, und sich mutig den Aufgaben des Tages zu stellen. Die Worte des Heiligen Thomas von Aquin in der Sequenz des Fronleichnamsfestes:

Quantum potes, tantum aude!

sollten Devise für uns sein. Eine Geisteshaltung, die nicht nur uns Spätberufene beflügeln konnte.

Eine Begegnung mit Dr. Guldenfels, sprengte den üblichen Rahmen: Es war unter uns Seminaristen bekannt, dass er großen Wert darauf legte, alle zum Abitur gemeldeten Schüler, mit möglichst optimalen Ergebnissen zu diesem Ziel zu führen. Wir besprachen uns daher im Kurs und waren unsicher, ob einer unserer Freunde dazu zählen würde. Auf unsere dringende Bitte hin, war der Schulleiter zu einem Gespräch mit uns bereit. Wir verwiesen in einem „herben Dialog unter Männern“ nachdrücklich auf die Stärken unseres Freundes, und den unverzichtbaren Wunsch des Kurses, unseren Klassenkameraden zum Abitur zuzulassen. Er wurde zugelassen, und schaffte die Reifeprüfung, wie wir es erwartet hatten.

Mit der Entscheidung, das Abitur nachzuholen, hatte sich unser Leben nicht total verändert. Es dauerte jedoch eine Weile, bis uns die Aufgaben eines Seminaristen in Schule und Alltag vertraut waren. Durch Gespräche in den Ferien konnten wir erfahren, dass auch die Menschen im heimatlichen Umfeld an unserem Vorhaben regen Anteil nahmen und -wie wir- Zeit brauchten, unsere Absicht, Priester zu werden, zu verstehen. Es war aber ermutigend, zu erleben, dass fromme Christen hinter uns standen, die mit und für uns beteten und Hoffnungen auf uns setzten: Manchmal kam die eine oder andere Frau etwas verlegen auf mich zu, und übergab mir einen Umschlag mit Geld. Andere Personen äußerten Respekt vor unserer Entscheidung und interessierten sich für die Schule und das vor uns liegende Studium. Ich war als ehemaliger Stadtrat ja gewöhnt, mit vielen Menschen im Gespräch zu sein, sodass ich es verstehen konnte, öfters angesprochen, und zu meinem Vorhaben befragt zu werden.

Wie früher, als ich noch in Rheinfelden wohnte, suchte ich in den Ferien die Nähe zum Stadtpfarrer und erzählte ihm von unseren Erlebnissen in Sasbach. Gelegentlich lud er mich zu einem Imbiss zu sich ein. Auf diese Weise lernte ich ihn in seiner liebenswürdigen, besonnenen, manchmal auch robusten Art zu dienen, zu führen und zu handeln, näher kennen:

Eines Tages suchte ein Einbrecher nach Geld im Pfarrhaus. Er hatte Pech! Unser Pfarrer, ein ehemaliger Gefängnisseelsorger, kannte sich mit Ganoven aus. Er erwischte den stämmigen Kerl in seinem Dienstzimmer, hob mit einer Hand einen Stuhl in die Höhe und donnerte mit kräftiger Stimme auf den wie Espenlaub zitternden Einbrecher los: „Wenn Du nicht…!“ Der Rest war einfach: Die Polizei brauchte den reuigen Sünder nur noch abzuholen.  Pfarrer Hermann war zu seiner Zeit in unserer aufstrebenden Industrie-Stadt Rheinfelden(Baden) als Seelsorger der richtige Mann am rechten Platz. Die Menschen, die ihn kannten, wussten, dass er seine ganze Kraft und seinen Ideenreichtum, der St. Josefs Pfarrei widmete. Für mich war er als Priester ein Freund und überzeugendes Vorbild. Er verdient es, noch an anderer Stelle erwähnt zu werden.

Ich saß nach den Ferien wieder im Zug Richtung Achern, mit einem großen Koffer, den meine Mutter, wie immer, fürsorglich mit Wäsche und Kleidung für die nächsten Wochen gefüllt hatte. Die Gedanken flogen den Ereignissen erwartungsvoll voraus: Ob ich die Vokabeln genug wiederholt hatte? Dies würde sich ja in den nächsten Latein-Stunden heraus stellen. Wie mochte es meinen Klassenkameraden in den Ferien ergangen sein? Was würde im Unterricht auf uns zukommen? Ein mulmiges Gefühl legte sich bei den letzten Überlegungen kurzfristig wie ein Schatten auf die Magengegend. Dann aber obsiegte die Vorfreude, alle Freunde wieder zu sehen, und näher kennen zu lernen.

Ich leistete mir den Luxus, mit dem schweren Koffer in einem Taxi vom Bahnhof Achern nach Sasbach zum Seminar zu fahren. Unser Rektor stand bereits unter der Türe seiner Dienstwohnung. Ein Lächeln auf seinem Gesicht, ließ erahnen, dass er uns erwartete. Der Hirte konnte sich aber entspannen, denn alle Schafe kamen wohl behalten zurück. Es herrschte wieder ein reges Treiben im Seminar. Wir räumten unsere Koffer aus, richteten uns in der vertrauten Umgebung wieder ein, und begrüßten uns gegenseitig. Es gab viel zu erzählen.

Wir wunderten uns nur das erste Mal, dass am Tag nach den Ferien, der volle Unterricht wieder störungsfrei und ohne Unterbrechung begann. Von der arbeitsintensiven Planung und Vorbereitung, die wir der Schulleitung zu verdanken hatten, bekamen wir nichts mit. Unsere Lehrer wirkten jedenfalls erstaunlich frisch. So war es möglich, unseren in den Ferien weniger angestrengt arbeitenden Gehirnen zügig nach zu helfen, um uns in kürzester Zeit wieder an konzentriertes Denken und Arbeiten zu gewöhnen.

Unser Lehrerkollegium bestand, ohne Ausnahme, aus sehr fähigen Pädagogen, die es gut verstanden, mit älteren Schülern zu arbeiten, und uns zu fördern. Galt es doch, uns in nur fünfeinhalb Jahren auf die Reifeprüfung vorzubereiten. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit, sei Ihnen, liebe Leser, nun mit einigen markanten Szenen, Einblick in unseren Schulalltag und das Leben in St. Pirmin gewährt:

Es sollte aber vorab darauf hingewiesen werden, dass an unserer Schule vor allem auf die geisteswissenschaftlichen Fächer wie Latein, Griechisch, Deutsch, Geschichte und Religion, Wert gelegt wurde. Dies bedeutete jedoch keineswegs, dass naturwissenschaftlicher Unterricht wie Mathematik, Physik, Chemie und Biologie, zu kurz gekommen wären. Selbst das Fach Bildende Kunst war mit „Toni März“, einem regionalen Künstler, hervorragend besetzt:

Unser temperamentvoller Kunstlehrer war mittelgroß. Eine Baskenmütze, sein Erkennungszeichen, die er beständig über seinem schlohweißen Haar trug, unterschied ihn auch äußerlich von seinen Kollegen. Toni März wirkte mit seinen lebendigen Augen, dem ausdrucksstarken, von einem weißen Bart umrahmten Gesicht, den lebhaften Bewegungen seiner Arme, filigranen Händen und Fingern, mit denen er seine Worte unterstrich, selbst wie ein ansprechendes Kunstwerk. Wenn er ihn interessierende Fragen beantwortete, lebte er förmlich auf, war mit Leib und Seele bei der Sache, und ließ sein umfangreiches Wissen über gesellschaftliche, politische, religiöse und künstlerische Zusammenhänge aufblitzen. Er war in seinen verbalen Erklärungen genau so kreativ und anregend, wie in seinen Bildern. Manchmal ergaben sich im Kunstunterricht so anregende Gespräche, dass wir, um nichts zu versäumen, freiwillig auf die uns zustehende Pause verzichteten. Toni März verstand es auf vielfältige Weise, unsere eigenen Interessen an Kunst zu wecken und zu fördern.

Dr. Zimmermann, einen pensionierten Lehrer der Heimschule Lender, lernte ich erst in Sasbach näher kennen. Einer seiner Neffen, der mir aus der Zeit in Rheinfelden bekannt war, machte mich auf ihn aufmerksam, sodass ich ihn in seiner Wohnung gelegentlich besuchte. Er war damals hoch betagt, von eher gebrechlicher Gestalt, und trug einen etwas schütteren, weißen Vollbart, der mich an einen greisen Chinesen erinnerte. Trotz diverser körperlicher Beschwerden, besaß er eine bemerkenswerte, geistige Frische. Wenn ich ihn besuchte, lag er meistens auf einem Sofa, umgeben von Büchern seiner reichhaltigen Bibliothek und war damit beschäftigt, als Lektor der Schule, Texte zu bearbeiten. Im anregenden Gespräch mit mir, war er oft so engagiert, dass ich den Eindruck gewann, sein ganzer Körper vibriere mit, und verstärke Worte und Sätze. Er entließ mich nie, ohne mich reichlich mit Nüssen zu versorgen, die er als „Gehirnnahrung“ empfahl.

Über seinen Neffen hatte ich erfahren, dass er im ersten Weltkrieg als Meldegänger eingesetzt war und sich zeitlebens gern bewegte. Wenn er in der Nähe der Schule auf seiner „Rennstrecke“ Richtung Turenne – Denkmal in kleinsten Schritten unterwegs war, seine Taschenuhr in Händen, um die Zeit zu nehmen, war er nicht ansprechbar. Wer es dennoch versuchte, bekam zu hören: „Keine Zeit, ich bin beim Sport!“ Dieser geistig rege und interessierte alte Mann, hat mich sehr beeindruckt. Kein Wunder, dass sein Neffe, ein Vegetarier, in der Spitzengruppe der über 80-Jährigen ebenfalls noch erfolgreich an Marathonläufen teilnahm.

Ein bedeutender Förderer der Heimschule und des Seminars war unser Mathematik-Lehrer Otto Zug: Ein eher kleiner, beleibter, geistig vitaler Schwabe, der als Junggeselle alle seine Fähigkeiten und Beziehungen in den Dienst der Schule stellte. Er besaß unter anderem reichhaltige, kunstvolle Sammlungen an Tischdekorationen, die er bei gesellschaftlichen Anlässen der Schule und des Seminars gerne zur Verfügung stellte. Er konnte knitz lächeln, wenn man ihn belobigend, auf seine teuren, kunstvollen Gegenstände ansprach. Otto Zug kannte sich in der Gemeinde Sasbach sowie in den im Gemeinderat vorherrschenden politischen Tendenzen gut aus, und nutzte seine ökonomischen Kenntnisse, bei Verhandlungen im Interesse der Schule mit schwäbischem Geschick, und der ihm eigenen Beharrlichkeit.

Als erfahrener Mathematik-Lehrer verfügte er über besondere pädagogische Fähigkeiten, abstrakte Zusammenhänge so bildhaft und aktivierend zu behandeln, dass seine Schüler solche Szenen ein Leben lang nicht mehr vergessen konnten: Er kam eines Tages in den Unterricht und rief Jochen zu unserer Überraschung nach vorne. Jochen war gewiss kein reines Lämmchen. Wir fanden aber trotz unseres angestrengten Bemühens durch Handzeichen nicht heraus, was er verbrochen haben konnte. Unser Lehrer schien die Erregung im Klassenzimmer zu bemerken und mit einem zufriedenen Lächeln zu genießen. Dann rief er Josef nach vorne, und stellte beide neben einander. Ohne Zweifel, Jochen war ein ganzes Stück kleiner als Josef. Darauf verwiesen auch die Gesten von Herrn Zug. Pause…, was nun? Und dann, eine fragende Handbewegung unseres Lehrers mit seinem berühmten „T´ja?“ Worauf wollte er hinaus? Herr Zug holte hinter seinem Pult einen roten Zylinder hervor, setzt ihn Jochen auf den Kopf und erklärte uns, als stünden wir vor einer großen Entdeckung: „ Jochen, plus Zylinder, ist jetzt gleich groß, wie Josef, ohne Zylinder“. Auch bei mathematisch weniger begabten Schülern, machte es fast hörbar „klick“, denn unser Lehrer hatte uns für alle Zeiten klar gemacht, was eine Gleichung sei.

Wir waren uns sicher, dass unser realitätsbezogener, praktisch aus gerichteter Mathematik-Lehrer ein frommer Mann sei. Es gelang ihm, uns auch immer wieder davon zu überzeugen. Wo möglich, versuchte er Brücken zwischen mathematischen und religiösen Fragen zu bauen: Wir waren beim Thema „Parallelen“: Er verwies auf eine Zeichnung, die Parallelen an der Tafel darstellte. Dann drehte er sich um, ließ eine Pause entstehen und wirkte, wie jemand, der dabei ist, eine bedeutende Entdeckung zu machen. „Das, erklärte er, und verwies auf die Zeichnung an der Tafel, sind Parallelen“. Er drehte sich langsam zu uns um und deutete mit Handbewegungen und seinem bekannten „T´ja“ an, dass da noch etwas war. Nach einer Pause folgte dann die Frage: „Und wo schneiden sich die Parallelen?“, um dann verschmitzt lächelnd hinzu zu fügen: „Etwa beim lieben Gott?“ Wir versuchten zu verstehen. Einen mathematischen Gottesbeweis hatte unser Lehrer nicht erbracht, und wollte das auch nicht. Ihm ging es um mehr. Er bezeugte uns mit dieser Geste, seinen Glauben an die Existenz Gottes. Wir wurden nachdenklich, denn wir waren ja unterwegs, um einmal selbst, als glaubwürdige Zeugen, Menschen zu Gott zu führen. Bis dahin lag aber noch ein weiter Weg vor uns und es bedurfte tatkräftiger Hilfe mancher Menschen, und deren Glaubenszeugnis, um uns auf unserem Wege beizustehen.

Wir Seminaristen lernten uns gegenseitig in Schule und Alltag näher kennen. Jeder von uns im Kurs, hatte seine besonderen Stärken und Schwächen. Da wir mehrere Jahre zusammen wohnten und lernten, wuchsen wir, wie selbstverständlich, zu einer verschworenen Gemeinschaft zusammen. Dies wurde auch von anderen Personen bemerkt: Manche Beobachter sprachen über uns von einem „Wunderkurs?“-

Als Ältester entwickelte ich freundschaftlich-fürsorgliche Gefühle zu meinen Klassenkameraden. Manche nannten mich gelegentlich „Papa“ Ich musste diese „liebevolle Anrede“ nicht zurückweisen; saßen wir doch alle, ohne Ausnahme, im gleichen Boot, von ähnlichen Sorgen und Fragen umgetrieben. Jeder durfte und konnte seine speziellen Talente einbringen. Wir brauchten diese guten Gaben Gottes in allen Formen:

Oft hat uns Gerhard sonntags mit Musik geweckt, in seine Verehrung Mozarts einbezogen, und auf den anschließenden Gottesdienst in der Heimkirche eingestimmt. Er verfügte auch über ein unerschöpfliches Repertoire an Witzen, die er zu jeder passenden Gelegenheit, perfekt erzählen konnte. Wenn ihm ein geneigtes Publikum zuhörte, lief er zur Hochform auf. Wer diese Fähigkeit Gerhards schätzte, konnte leicht erkennen, dass er seine Witze liebte. Er steuerte die Pointe geschickt an, genoss den Beifall, setzte dabei ein Pokergesicht auf und prüfte mit einem verschmitzten Lächeln, ob die Zuhörer noch einige Witze hören wollten.

Wo und wie manche Freunde unseres Kurses an Wochenenden ihre freie Zeit zur Erkundung der Umgebung nutzten, auch wann und wie sie zu später Stunde wieder unauffällig ins Seminar zurückkehrten, blieb mir größtenteils verborgen. Ich hatte aber auch Lust, die freie Zeit nicht im Hause abzusitzen, und sah mich Im Interesse des Kurses nach geeigneter Unterhaltung für uns um:

In einer Zeitungsanzeige machte der Besitzer eines nahegelegenen Gestüts darauf aufmerksam, dass es zu günstigen Konditionen möglich wäre, bei ihm zu reiten. Jochen erklärte sich bereit, mit mir das Angebot zu prüfen. Wir rechneten fest damit, einen größeren Teil unseres Kurses für diese Idee gewinnen zu können, falls wir einen passablen Preis für das Reit-Vergnügen aushandeln konnten. Wir waren guter Dinge und marschierten los. Nach einiger Zeit fanden wir die Ortschaft – nicht sehr groß – jedoch das Gestüt konnten wir nicht entdecken. Schon wollten wir enttäuscht umkehren, da bemerkten wir ein Bauernhaus, an das sich ein merkwürdiger Zaun aus Schilfrohr anschloss. Hinter dem Zaun befand sich eine freie Fläche, auf der tatsächlich ein Pferd und ein Maulesel standen.

Es kam ein Mann auf uns zu, der sich als Besitzer des in der Tat sehr kleinen Gestütes vorstellte. Blitzschnell erfassten wir die Lage: Dieses Angebot war nicht geeignet, um unserem Kurs Reiterfreuden zu ermöglichen. Wir disponierten um, und erklärten, dass wir reiten wollten. Damit hatte der Besitzer offensichtlich gerechnet. Er war sehr bemüht, unsere Fragen zu beantworten, als befürchte er, die „seltenen Interessenten“ könnten sich unzufrieden wieder abwenden. Wir hatten aber keine Lust, nach dem längeren Fußmarsch, einfach aufzugeben. Eher lockte uns die Chance, unter den gegebenen Umständen einen günstigen Preis für die Reitstunde aushandeln zu können. Wir einigten uns, wie erwartet. Dann musterte uns der »Reitlehrer?“ und erklärte: „Sie, er deutete mit der Hand auf mich, reiten auf dem Pferd, und Sie, damit meinte er Jochen, als Leichtgewicht, auf dem Maulesel!“

Irgendwie kamen wir in die Sättel und wurden einige Runden an der Longe im Kreis geführt. Der Besitzer beobachtete uns und stellte fest, dass ich reiten könne. Ich war überrascht, denn ich hatte nicht die geringste Ahnung, wie ich ein Pferd „lenken“ sollte. Ich entgegnete: „Reiten könne ich nicht, ich hätte aber schon einige Western-Filme gesehen, und sei als Schlagzeuger mit einem sicheren Gefühl für den Rhythmus ausgestattet. Das war es dann schon.

Danach ritten wir zum ersten Male aus, und es fühlte sich gut an, hoch oben zu Pferde zu sitzen. Vor mir ritt oder trippelte Jochen mit dem Maulesel. Es war ein Bild für die Götter. In meiner Fantasie gab ich Jochen eine Lanze und ein Schild in die Hände, und fertig war „Don Quijote“. Diese Vorstellung drängte sich mir so sehr auf, dass ich das Lachen nicht mehr unterdrücken konnte. Die Schadenfreude dauerte allerdings nicht lange: Mein Pferd setzte aus mir unbekannten Gründen zum Galopp an, und blieb plötzlich, indem es die Vorderbeine schräg anstemmte, aus voller Bewegung, wie angewurzelt stehen. Ich hatte keine Schwierigkeiten aus dem Sattel zu kommen, denn mit einem Salto über den Kopf des Pferdes, landete ich in einer lehmigen Pfütze. Ich drehte mich verblüfft um, und gewann den sicheren Eindruck, als ob das Pferd mich an- oder gar auslachte. Größeren Schaden hatte ich nicht genommen, doch allen Anlass, mich mit dem beschmutzten und feuchten Hinterteil nach Hause zu begeben. Zeit, mich umzuziehen, hatte ich nicht. So zog ich, feucht und verdreckt, zusammen mit Jochen in den Speisesaal ein. Wie ein Lauffeuer ging die Nachricht von meiner missglückten Reitstunde von Tisch zu Tisch und sorgte für entsprechenden Spott und Gelächter.

Jochen war auch ein begabter Situationskomiker. Er brauchte dazu nur einige Gläser Bier, ein interessiertes Publikum, das ihn anfeuerte, und einen ebenso fantasiebegabten Mitspieler. Wenn er hierzu mit Günter eine spontane Nummer zum Besten gab, konnte man sich nicht mehr halten. Jochen verstand es, mit seinem ansteckenden Humor, uns oft die Alltagssorgen von der Stirn zu wischen, wie eine Mutter ihren Kindern die Schmerzen, mit dem „Heile-Segen“.

Ich habe selbst nur noch vage Erinnerungen an eine ausgiebige und reichlich feuchte Sitzung im „Rebstock“, und an das mitternächtliche Bad im Dorfbrunnen, um die erhitzten Gemüter der Beteiligten abzukühlen. Wir kamen aber auf dem Weg nach Hause einfach nicht an diesem, aus vollen Rohren Wasser speienden Brunnen vorbei. Irgendeiner von uns prüfte die Wassertemperatur, und schwupps, war er drin. Dieses Ereignis löste in uns ein unerklärliches Verlangen aus, ihm nacheinander wie die Lemminge zu folgen. Die „Badeanstalt“ war gerade groß genug, um uns allen Platz zu bieten, lediglich die Schwimmversuche scheiterten kläglich an den Wasserrohren im Brunnen. Nach dem Motto: „einmal über und dann wieder unter Wasser, wie ein Seehund“ überwanden wir aber die Barrieren. Nach der Abkühlung verstanden wir besser, was sich da eben abgespielt haben musste. Nass, fröstelnd, und mit grün eingefärbten Kleidern, standen wir wie begossene Pudel da. Wer so aussah, musste wohl dabei gewesen sein.

Irgendwann stellten wir fest, dass es in unserem Kurs musikalische Begabungen gab. Manfred spielte Akkordeon, Jürgen Trompete, Jochen Gitarre, Bernhard Piano, und ich ergatterte mir ein Schlagzeug. Wir probten mit Begeisterung. Ein Glück, dass ich früher in mehreren Bands gespielt hatte und wusste, wie sich Musik anhören sollte. Es war bald klar, dass der Anspruch gesenkt werden musste. Schließlich drängte es uns, aufzutreten, denn wir hatten ein ausreichendes Repertoire erarbeitet. Wir hatten zwar keinen Gesangssolisten, dafür aber Jürgen. Wenn er sein »Il Silenzio« mit der Trompete schmetterte, konnten wir des Beifalls gewiss sein. Am „Ave-Maria“ im Chor hatten wir lange gearbeitet, bis uns dieser Titel gefiel. Mit dem Schlager „Die besseren älteren Herrn, gehen mal gern auf ne Angeltour….“, fanden wir stets ein begeistertes Publikum. Unser Auftritt bei einer Tanzveranstaltung in Achern, zu der wir die „Spätberufenen“ mit Zustimmung des Rektors geladen waren, geriet zu einem vollen Erfolg.

Mit Beginn der Obertertia nahmen die schulischen Anforderungen zu. Nur wenige Klassenkameraden mussten aber die Schule verlassen. Ich hatte zeitweise auch große Mühe mit »Griechisch«, der zweiten Fremdsprache, und nahm, etwas beschämt, das Angebot zur Nachhilfe an, um über diese Hürde zu kommen. In dieser Zeit stand ich, ohne mein Wissen, unter strengster Beobachtung unseres Kurses. Erst viel später erzählten mir meine „Freunde“, dass ich zur Nachhilfe immer auffallend ordentlich gekleidet aus dem Hause ging. Sie vermuteten, dies könne damit zusammen hängen, dass eine Griechisch-Lehrerin, die wir alle sehr schätzten, diese Aufgabe übernahm. Bei dieser Gelegenheit gestanden sie mir auch, dass sie sich untereinander verständigt hätten, mich zu loben, wenn ich Ihnen gelegentlich stolz meine neuesten Bilder zur künstlerischen Begutachtung zeigte.

Dr. Effinger verstand es, in personifizierter Gelassenheit, uns in Deutsch und Geschichte effizient auf das Abitur vorzubereiten, für den Reichtum der Literatur zu begeistern und uns kritisch in geschichtliche Zusammenhänge einzuführen. In der Art, wie er Themenschwerpunkte auswählte und im Dialog mit uns hierzu Position bezog, war zu erkennen, wie sehr ihm daran gelegen war, uns das christlich-humanistische Bildungsideal zu vermitteln. Obwohl er viele Jahre mit der Oberstufe arbeitete, blieb sein Unterricht erstaunlich lebendig. Man merkte ihm an, dass er von Dingen sprach, die ihm selbst viel bedeuteten. Wenn er, mit dem Oberkörper entspannt zurück gelehnt, hinter seinem Pult die langen Beine nach vorne schob, und den Oberlippenbart kraulte, hatte man das Bild eines Menschen vor Augen, der auch in schwierigen Lebenssituationen in der Lage schien, Ruhe zu bewahren. Sein schlankes, von Falten gegerbtes Gesicht, der stets wache Blick, die naturgewellten, noch dunklen Haare, passten zu dem großen, schlanken, nicht unbedingt sportlich, eher schlaksig wirkenden Mann. Sein Rat wurde auch im Kollegenkreis sehr geschätzt.

Als Klassen- und Haussprecher war ich oft gefordert, bei verschiedenen Anlässen einige Sätze zu sagen. Gelegentlich belustigten sich meine Freunde auch, wenn sie mich mit vereinten Kräften lauthals aufforderten: „Franz, sag was!“ Ich habe diesen leichten Spott, ohne Schaden zu nehmen, überstanden. Ein Ereignis blieb mir aber besonders in Erinnerung:

Der hochwürdigste Herr Erzbischof von Freiburg mit seinem Gefolge, war zu einer Besichtigung des Schulneubaues angesagt: Dies war ein besonderer Festtag für die Heimschule und unser Seminar. In Erwartung des hohen Gastes, erregten die Vorbereitungen für seinen Empfang  bereits Tage zuvor die Gemüter der Schulleitung, des Lehrerkollegiums, und leicht abgeschwächt, auch der Schüler. Man spürte Anspannung in allen Bereichen der Schule, galt es doch den Tag so zu gestalten, dass die geladenen Gäste mit einem guten Eindruck und der Gewissheit nach Hause fahren konnten, dass sich Investitionen in Sasbach lohnten.

Mir oblag es, der hohen Geistlichkeit als Schülervertreter für die wohlwollende Unterstützung in jeder Form zu danken. Ich musste davon ausgehen, dass zum offiziellen Empfang außer den Gästen aus Freiburg, alles was Rang und Namen hatte, in der Heimschule Lender und St. Pirmin, der Öffentlichkeit, Politik und bei der Presse etc., einen exzellenten Rahmen bilden würden, vor dem ich zu sprechen hatte. Bei den Vorüberlegungen hierzu, war mir nicht ganz wohl zumute. Es half aber nichts; ich musste mir einige Sätze einfallen lassen und hoffte sehr, dieser Aufgabe gewachsen zu sein.

Einigermaßen vorbereitet, saß ich als Redner in der ersten Reihe der Aula und bekam in meiner Aufregung nicht mehr mit, was sich an Prominenz in den vielen Reihen hinter mir eingefunden hatte. Die Spannung steigerte sich, denn die Besichtung des Neubaues nahm mehr Zeit in Anspruch, als vorgesehen war. Das Herz schlug mir bis zum Halse; dennoch versuchte ich, gelassen zu wirken und harrte der Dinge, die auf mich zukommen würden. Nach beunruhigend langem Warten, betrat der Erzbischof mit seiner Begleitung den Raum. Es dauerte zum Glück nicht mehr lange, bis zu meinem Auftritt:

Als ich schließlich dem Erzbischof gegenüber stand, schien er mir klein und schmächtig, gar nicht groß und erhaben. Seine Hände, in denen er ein Programm hielt, zitterten mächtig. In diesem Augenblick überfiel mich ein großes Mitleid mit dem Hirten der Diözese. Sein Zittern berührte mich. Ich hatte so etwas nicht erwartet. Die Spannung wich wie ein Wunder momentan von mir. Meine Worte kamen beim Erzbischof an, und er bedankte sich. Eine Last fiel von den Schultern, als Beifall einsetzte, der mir zeigte, dass ich im Sinne der Anwesenden gesprochen hatte.

Das Ziel unseres Aufenthaltes in Sasbach, die Reifeprüfung, rückte immer näher. Wir waren in der Oberprima in allen Fächern angestrengt dabei, uns auf das Examen vorzubereiten. Gleichzeitig wussten wir, dass es galt, in absehbarer Zeit Abschied von unserem zu Hause in St. Pirmin und der uns lieb gewordenen Region um Sasbach zu nehmen. In Gruppen wanderten wir in der karg bemessenen Freizeit nach Sasbach-Ried und hinauf auf die Höhe nach Sasbachwalden, um dort bei einem Imbiss und dem vorzüglichen Wein, Abstand von den Prüfungsvorbereitungen zu gewinnen und mit frohen Liedern nach Hause zu wandern. Mehr, als je zuvor, bestürmten wir unsere treuen Schutzengel, den Herrn und die Gottesmutter in unseren Gebeten, Gottesdiensten und Wahlfahrten, uns auf unserem Weg zur Seite zu stehen. Wir wussten, unser guter Wille und die Vorbereitungen konnten nur zum Ziel führen, wenn Gottes Segen uns hielt und trug. Es lagen aber noch anstrengende Monate vor uns. Jeder kannte seine Schwächen, an denen er noch zu arbeiten hatte. So weit es an uns lag, halfen wir uns auch gegenseitig.

Ich hatte den Eindruck, als ob mich Herr Serrer, unser Chemielehrer, der nicht viel älter war als ich, im Unterschied zu meinen anderen Kameraden, seltener abhörte. Er musste mich aber benoten und ich rechnete fest damit, dass er mich nicht verschonen würde, und mein Wissen in Chemie prüfen werde. Die kritische Selbsteinschätzung erlaubte mir, keine großen Hoffnungen auf Erfolg in diesem Fach. In meiner Not, bat ich meinen Freund Manfred, der in Chemie sehr erfahren war, mir Nachhilfe zu geben. Die Zeit drängte, denn anderntags rechnete ich mit der mündlichen Prüfung.

Manfred sagte zu, und wir trafen uns zu diesem Vorhaben für einige Stunden in Gottes freier Natur, am Vortag der erwarteten Prüfung. Wir beide kannten uns gut, sodass ich es ohne Scheu wagen konnte, meinem Freund reinen Wein einzuschenken. Ich hatte tatsächlich Chemie stiefmütterlich behandelt, um Zeit für die Kernfächer zu gewinnen. Manfred begann mich schonend abzufragen, bemerkte aber bald, dass meine Kenntnisse äußerst dürftig waren. Er kommentierte: „mit Schwächen habe er gerechnet, aber keineswegs mit einem derartigen Minimum an Fachwissen“. Dennoch ging Manfred mutig daran, mich in Chemie zu präparieren. Dies gelang ihm auf erstaunlich gute Weise. Ich entwickelte nach dieser Prozedur die etwas überhebliche Vorstellung, in diesen wenigen Stunden wirklich etwas von Chemie verstanden zu haben. Darüber wunderten wir uns beide sehr. An meinen Fähigkeiten zu lernen, konnte es folglich nicht gelegen haben, sondern eher an der geringen Beschäftigung mit dem Thema.

Wie befürchtet und erwartet, rief mich Herr Serrer am nächsten Tag in Chemie auf. Es tröstete mich zu sehen, dass es ihm sichtlich schwer fiel, mich zu examinieren. Die Prüfungsvorbereitung durch meinen Freund zeigte aber erstaunliche Wirkung. Weniger hilfreich schienen mir die Signale meiner Klassenkameraden, die ich nicht zu deuten vermochte. Mir erscheint es auch heute noch wie ein kleines Wunder, auf welch mysteriöse Weise ich zu einem guten Examen in Chemie gekommen bin.

Herr Blechinger, ein großgewachsener, sportlich wirkender Lehrer, hatte die Aufgabe übernommen, uns in Mathematik auf das Abitur vorzubereiten. Im Hinblick auf die Kurzschuljahre gab es eine Sonderregelung. Wir hatten mit seiner Hilfe fünfundzwanzig mathematische Beweise zu erarbeiten, aus denen wir Abiturienten einige Aufgaben gestellt bekamen. Es war eine Menge zu tun, aber immerhin konnte man sich auf eine begrenzte Fragestellung vorbereiten. Auch weniger befähigte Mathematiker durften daher hoffen, an dieser Hürde nicht zu scheitern.

Die letzte Phase der Vorbereitung auf die Reifeprüfung war nicht nur von einer zunehmenden Anspannung, sondern auch von der Erfahrung wohlwollender Begleitung geprägt. Die verschworene Gemeinschaft bewährte sich nicht nur in unserem Kurs. Die jüngeren Seminaristen, unser Schulleiter, der Rektor, die Lehrer, der Präfekt, Spiritual und die Schwestern waren im Geiste St. Pirmins am Gelingen unseres Vorhabens interessiert und trugen ihren je spezifischen Teil dazu bei, uns in den schwierigen letzten Wochen vor dem Abitur und während der Prüfungen zu unterstützen.

Es lässt sich kaum beschreiben, welche Gefühle uns bewegten, als wir 1967, nach fünfeinhalb Jahren, in einem feierlichen Festakt die Reifeprüfungszeugnisse in Händen zu hielten. Noch einmal tauchte das Wort vom »Wunderkurs« auf, als die vielen Preise aufgerufen wurden, die wir gesammelt hatten. Mein Beitrag hierzu war der »Scheffel-Preis« des Volksbundes für Dichtung. Als Freund der deutschen Sprache und Liebhaber der Literatur, berührte es mich besonders, gerade diesen Preis zu erhalten.

Wir hatten alle mit vielen Fragen unseren Weg 1962 in Sasbach begonnen und nun, 1967, das Abitur, die Voraussetzung zum Studium, bestanden. Wieder ergaben sich andere Fragen und Hoffnungen: Würde es gelingen, auch das Studium der Philosophie und Theologie erfolgreich zu beenden, um unserem Ziel, Priester zu werden, ein weiteres Stück näher zu kommen?

Den Text von Friedrich Schiller auf einer schön gestalteten Karte:

» Wisset, ein erhabener Sinn,

legt das Große in das Leben

und er sucht es nicht darin. «

haben sechzehn glückliche Abiturenten mit ihrem Namen unterschrieben, um die »frohe Botschaft« vom bestandenen Abitur weiter zu tragen.

In Sasbach wurde aber auch Freundschaften geschlossen, Werte vermittelt und unser Glaube gefestigt. Ich bin sicher, dass uns für alles tiefe Dankbarkeit erfüllt, gegenüber den Menschen, die an diesem Erfolg beteiligt waren. Und es scheint mir, als ob meine Freunde ihrem alten Klassensprecher, wie früher, zurufen würden: „ Franz, sag was!“, besonders wegen der betrüblichen Tatsache, dass unser Spätberufenen-Seminar St. Pirmin leider nicht mehr existiert.

Ihr sollt das heute das „Wichtigste“ von mir hören. Dazu brauche ich aber Euch, liebe Pirminer und Schüler der Heimschule Lender, ebenso auch Sie, liebe Freunde und Leser: Jesus Christus, der Herr, hat uns einmal angesprochen, und uns in der alle Zeiten überdauernden Kirche zusammen geführt. Unser Herr war und bleibt der unbestrittene Mittelpunkt jeder christlichen Gemeinschaft. Wisst Ihr noch, wie wir einst zusammen vor dem ausgesetzten „Allerheiligsten“ in der Heimkirche beteten?

Wer sollte uns daran hindern, die in Sasbach begründete Gemeinschaft zu leben, und zusammen mit Rektor Oberle und Dr. Guldenfels, die uns voran gegangen sind, und mit allen Gläubigen Gott zu loben, zu preisen und um Schutz und Beistand zu bitten? Hört Ihr mich jetzt auch singen? Ich stimme das „Tantum ergo…“ an, und Rektor Oberle wendet sich uns zu, zeigt uns die „Monstranz mit dem Herrn in „Brotsgestalt“ und erteilt uns den Segen vom Himmel her.

Berufung

Dreifaltiger Gott, Vater, Sohn und Heiliger Geist, alles hast Du ins Dasein gerufen, von Ewigkeit in Dein Herz geschrieben, und uns als »Getaufte« in Deine Kirche berufen. Du hältst Deine Schöpfung sicher über den Abgründen, vergibst den Völkern ihre Schuld, segnest Dein Werk, und holst uns heim in Deinen großen Frieden. Geheiligt werde Dein Name! In der weltweit geöffneten Katholischen Kirche, erfahren wir immer wieder Hilfe und Zuspruch, und der Glaube sagt uns, dass die Pforten der Hölle sie nicht überwinden. Ein aus Lindenholz geschnitztes Kreuz, ist zwischen einem Bild Mariens mit dem Jesus-Kind, und einer Ikone als Ausdruck dieses Glaubens in Erics Wohnzimmer nicht zu übersehen. Es begleitete auch seinen Lebensweg. Er betrachtete es als eine Gnade, aufrechten Priestern und frommen Gläubigen zu begegnen, die ihm halfen, Gott in allen Dingen, der Heiligen Schrift, Liturgie, den Sakramenten, der Natur, Kunst, Musik und Literatur zu erkennen. Im Kindesalter ließ er sich in den Gottesdiensten, tief beeindruckt von den Gesängen und Gebeten der Gemeinde mittragen, in der stürmischen Adoleszenz und danach, trösten und aufrichten. In späteren Jahren erlebte er die Nähe Gottes dankbar, wenn ihn Fragen und, Sorgen bedrängten, das Leid der Menschen berührten, oder, wenn er deren Freude, Hoffnung, und Glaubenstreue erleben durfte. Gütige Engel schützten und bewahrten ihn in vielen Gefahren während des Krieges und den Hungerjahren danach

Als Vorsitzender einer Wählervereinigung und Stadtrat erlebte Eric jedoch in der politischen Diskussion nach dem zweiten Weltkrieg schmerzlich den Verlust an sozialen, ethischen Normen und Werten, und an philosophischen und religiösen Sinnfragen. Bei der Suche nach geeigneten Lösungen, setzt er sich immer mehr mit den ihn prägenden, christlichen Vorstellungen auseinander. Zeitweise studierte er fast ausschließlich die Heilige Schrift. Die anstehenden Fragen ließen sich aber nicht mehr abweisen:

In der Ruhe eines Klosters, hoffte er zu erkennen, welche Aufgaben ihm im Hinblick auf sein bisheriges und künftiges Leben wichtig wären, und welche Ziele er erreichen wollte. Es war ihm auch ein Anliegen, den eigenen Standort im Leben, als katholischer Christ, im Lichte seiner Glaubensüberzeugungen zu überprüfen. Der im Kloster vorgesehene Wechsel zwischen anregenden Vorträgen, Schweigen, Mahlzeiten, Erholungsphasen und Gottesdiensten, kam seinen Interessen sehr entgegen. Auch die Gottesdienste mit den Mönchen und Brüdern in den einladenden Räumen des Klosters, trugen zur Besinnung in den Exerzitien bei, Er gewann die Überzeugung, von den Benediktinern in dieser Woche im Gebet begleitet zu werden.

Zu Erics Gruppe gehörte ein blinder Teilnehmer. Wenn dieser bei den Gottesdiensten zu einer kleinen Hausorgel geführt wurde, dort Platz nahm, und die Gesänge begleitete, öffneten sich die Sinne und Herzen der Teilnehmer; waren doch alle mit ihren persönlichen Anliegen wie Blinde gekommen, die den künftigen Weg suchten. Das kindliche Vertrauen in Gottes Vorsehung, und die Bereitschaft auf die Anregungen des Heiligen Geist zu lauschen, erwachten wieder neu. Am Ende dieser erlebnisreichen Woche, war Eric kein anderer Mensch; er hatte auch nicht zu allen Fragen Lösungen gefunden. Er erlebte aber intensiv den Trost und die Anregungen durch Christen, die sich in Gottes Namen versammelten, sangen und beteten. Diese Bereitschaft, im Gebet, der Schriftlesung und Liturgie, die Nähe zu Gott zu suchen, begleiteten Eric auch in  den Alltag. Die aufrüttelnde Erfahrung der Nähe zu den Priestern bei der Feier der Eucharistie, und die Frage, ob und wie er darauf reagieren könnte, ließen ihn von da an nicht mehr los:

Zu Hause, wieder eingebunden in die beruflichen, sozialen und politischen Aufgaben, suchte Eric immer wieder die Stille, und die Gelegenheit, um sich mit den priesterlichen Aufgaben in der Kirche vertraut zu machen. Nun interessierte es ihn aber auch sehr, was Menschen veranlasste, sich von der Kirche in Dienst nehmen zu lassen. Er las daher Geschichten über das Leben und Wirken von Heiligen und Missionaren.

Eric erinnerte sich auch an die Erzählung seiner Mutter, dass ein ehemalige Pfarrer ihn als Jungen zur Priesterausbildung vorgesehen hatte. Dieser Plan scheiterte aber am Widerstand der Mutter. Nun gewann jedoch die Kirche als weltweite Gemeinschaft der Gläubigen mit Priestern, Bischöfen, Kardinälen und dem Papst für Eric erneut an Bedeutung. In politischer Arbeit geschult, begann er daher für alle Menschen, die der Kirche dienten, zu beten. Auch die geschichtliche Dimension der Kirche, auf ihrem Weg durch die Zeit, und ihre aktuelle Gestalt, beschäftigten ihn sehr. Eric erkannte die Aufgabe der Kirche, und deren Sendung zum Heil der Menschen. Alles, was ihm von Kindheit an lieb und teuer war, schien ihm ohne die Stimme der Kirche in Gefahr. Noch mehr: Eric sah viele Menschen bedroht, der Gottlosigkeit zu verfallen. In seiner Not und aufbrechenden Sorge, griff er nun öfters zur Heiligen Schrift, und fühlte sich durch Gottes Wort sehr angesprochen. Da redete –Einer-, der die Menschen kannte, der Herr, wahrhaft, vertrauenswürdig, und mit Macht. Eric gewann die Überzeugung, nichts Besseres als diese Botschaft finden zu können, und vernahm deutlicher die Stimme des Herrn, der Arbeiter in seinem Weinberg brauchte.

Szenen in der Heiligen Schrift über Berufungen und Begegnungen des Herrn mit Menschen seiner Zeit, beeindruckten Eric sehr, wie: Zachäus, der klein von Gestalt, auf einen Baum stieg, um den Herrn zu sehen, Jesu Gespräch mit der Sünderin, die Rückkehr des verlorenen Sohnes, der Schächer am Kreuz, die Verleugnung des Petrus, der ungläubige Thomas, und die Begegnung des Auferstandenen mit den Emmaus Jüngern. Er betrachtete auch tief bewegt den Leidensweg und Tod des Herrn, und seine Auferstehung. Die Person und das Leben und Wirken Jesu beeindruckten Eric immer mehr. Er fühlte sich davon sehr angesprochen und gleichzeitig unwürdig, Ihm als Priester folgen zu können.

Immer mehr bedrängte Eric die Frage, ob er sich beim Gedanken dem Herrn zu folgen, getäuscht haben könnte, befand er sich doch schon im fortgeschrittenen Alter. Er war unsicher, ob er bei seiner Vorbildung die Fähigkeiten hätte, das Abitur nachzuholen, um an einer Universität zu studieren, und ob er die Mittel aufbringen könnte, sein Studium zu finanzieren. Wer würde zudem seine Mutter versorgen, wenn er außer Haus wäre? Eric stand daher vor vielen ungelösten Problemen. Aber immer dann, wenn er an den Herrn dachte, fühlte er sich auf dem rechten Weg. Über Monate hinweg überlegte er all dies und hatte nicht den Mut, mit anderen Menschen über das zu sprechen, was ihn zutiefst bewegte.

Schließlich wagte er es doch, mit einem Vikar und mit dem Heimat Pfarrer über seine Gedanken und Pläne zu reden. Im Unterschied zum Vikar, reagierte aber der lebenserfahrene Pfarrer sehr ruhig und besonnen. Mit Rücksicht auf den bisherigen Lebensweg Erics, lag ihm sehr daran, ihn vor unüberlegten Schritten zu warnen. Gegenüber seinem vertrauten Pfarrer war es Eric aber möglich, über alles offen zu sprechen und auch mitzuteilen, dass ihn selbst die eigene religiöse Entwicklung überraschte, und er sich daher eine zweijährige Frist gesetzt habe, um die sich anbahnende Entscheidung so weit als möglich zu überprüfen.

Ab diesem Zeitpunkt, besuchte Eric täglich vor Dienstantritt in seinem Beruf, die Frühmesse. Es waren jedoch meistens nur wenige Frauen anwesend, deren Frömmigkeit ihn aber sehr beeindruckte. Wenn Eric aber frühmorgens den zehn minütigen Fußweg durch die noch ruhige Stadt zur St.Josefskirche ging, erschien ihm dies schweigende Gehen oft wie erfüllt von Gottes Gegenwart, und er freute sich über seine Absicht, Priester werden zu wollen.

Vor dem Ende seiner selbst gewählten zweijährigen Probezeit, hatte sich der Wunsch, Priester zu werden, gefestigt. Eric war sich aber darüber klar, dass es mit Sicherheit kein leichter Weg werde. Er dachte auch oft darüber nach, welche Zeit ihm nach einem Studium bliebe, um als Priester wirken zu können. Immer wieder setzte sich der Gedanke durch, dass er von Gott alles, empfangen habe und der Herr auch sein Leben für uns Menschen hin gegeben habe. Manchmal überfiel ihn  der Gedanke, dass sich jeglicher Einsatz lohnte, selbst, wenn er nur einmal als Priester ein Messopfer feiern könnte..

Während der gesamten Zeit seiner Vorbereitung, befand Eric sich in regelmäßigem Austausch mit seinem Pfarrer und dem damaligen Vikar. Ihre Begleitung und das Gebet der frommen Frauen in den täglichen Gottesdiensten, erlebte er schweigend als eine Zeit, in der in zwei Jahren mit Gottes Hilfe viel geschehen war. Trotz erheblicher Belastungen im Beruf, im sozialen und politischen Umfeld und  beim Musizieren, war es ihm möglich gewesen, täglich die Frühmesse zu besuchen. Mit den zusätzlichen Einnahmen als Schlagzeuger in einer Band, sah Eric sich auch in der Lage, das Studium weitgehend aus Eigenmitteln zu finanzieren. Er betrachtete auch die Tatsache, dass er keine feste Beziehung zu einer Frau hatte, als einen kleinen Hinweis, den Zölibat einhalten zu können.

Eric wusste zwar nicht, ob er das Abitur schaffen würde, und in der Lage wäre, unter anderem noch Latein und Griechisch zu lernen. Es war ihm aber bewusst, viel arbeiten zu können, um diese Hürde zu nehmen. Im Blick auf die bisher im Beruf, der Politik und im sozialen Bereich gelösten Aufgaben, durfte er auch damit rechnen, dass sich diese Fähigkeiten ebenso in der Schule bewähren würden. Alles andere konnte er ja getrost Gott, und seinen Engeln überlassen. Eric konnte auch davon ausgehen, dass ihn seine beruflichen Erfahrungen, die Leitung einer Wählervereinigung und des Katholischen-Männer-Fürsorgevereins, sowie die Tätigkeit als Stadtrat in den Ausschüssen, bei der künftigen Arbeit in einer Pfarrgemeinde nützlich sein könnten. Dies galt auch für seine Fähigkeit, die eigenen Kräfte nicht zu überschätzen und den verantwortlichen Umgang mit seiner Gesundheit zu pflegen.

Nachdem Eric glaubte, sich über die religiöse Entwicklung und seine Pläne ausreichend klar geworden zu sein, drängte es ihn, nicht mehr zu schweigen, sondern die wichtigsten Personen über seine Entscheidung zu informieren. Dies betraf die politischen Freunde, die Mitarbeiter des Sozialdienstes, den Arbeitgeber, und Bürgermeister, seine Familie, die Verwandten, persönlichen Freunde und einige wichtige Nachbarn. Eric begegneten in diesen Gesprächen, sowohl der Überraschung, als auch dem respektvolles Verstehen-Wollen.

Die Anmeldung zur Aufnahmeprüfung im Spätberufenen-Seminar St.Pirmin in Sasbach, war begleitet von manchen Fragen, von Unsicherheit und Hoffnung. Zum Glück bestand Eric diese Prüfung am selben Tage, an dem er wunschgemäß als Stadtrat aus dem Gremium ausschied. Ein erstes Ziel war mit Gottes Hilfe erreicht. Eric schaute auf zum Kreuz seines Großvaters, und zu all denen, die diesen Weg vor ihm gegangen waren, und wartete mit großem Interesse auf den Tag, an dem er im Spätberufenen-Seminar St.Pirmin in Sasbach wohnen und arbeiten würde. Von dieser segensreiche Zeit erfahren Sie, liebe Leser in der nächsten Geschichte.

 

 

 

 

 

Advent

Belastende Ereignisse in den letzten Wochen klingen noch in mir nach. Umso mehr freue ich mich, heute wieder frohgemut am Schreibtisch im Obergeschoss unseres Hauses zu sitzen. Es beginnt einzudunkeln. Zur Adventsstimmung passt sehr gut die schlichte weiße Kerze auf meinem Fensterbord. Sie begleitet mich mit ihrem ruhigen Schein in den verdämmernden Tag und vermag sich gewiss auch in zunehmender Dunkelheit zu behaupten. Noch sind aber die Umrisse unserer drei Fichten im Garten gut zu erkennen. In inniger Zwiesprache bringen mich diese Gefährten beim Anblick wieder einmal, wie so oft im Verlaufe des Jahres, vom Nachsinnen ins Stauen über das Geheimnis der „Heiligsten Dreifaltigkeit“. Gilt doch nicht nur den drei Grazien im Blickfeld sondern auch ihrem Schöpfer Lobpreis und Dank für so viele Wohltaten. Heute möchte Ich daher auch ein in der Not gegebenes Versprechen einlösen und dem Herrn für alle die Menschen, tüchtigen Ärzte, Therapeuten, Schwestern und Pfleger danken, die sich in den vergangenen Monaten so um mich kümmerten, dass ich auf dem Weg der Genesung bin, und wieder schreiben kann. Habe ich mir doch vorgenommen, dass ich, wenn Gott mir Zeit gewährt, meine Helfer nicht vergessen und mehr als zuvor auf meine Gesundheit achten werde. Aber nicht nur mir, sondern auch Ihnen, liebe Leser, wünsche ich einen gesegneten Advent und dass Sie in der Zeit des Wartens viel Vorfreude auf das kommende Fest erleben dürfen. Nun habe ich aber noch etwas zu erzählen:

In der vergangenen Nacht beschäftigten mich, als ich zwischenzeitlich wach lag, sehr viele Sorgen, die alle mit den Beziehungen der Menschen zu einander zu tun haben. Wie sehr wünschte ich, dass gute Engel in unseren unruhigen Tagen alle die geplagten Flüchtlinge und aus ihrer Heimat Vertriebenen begleiten möchten. Kennen wir doch auch in Deutschland, ja in ganz Europa das leidvolle Schicksal vieler Menschen, die sich in der Folge von Konflikten eine neue Heimat suchen mussten. Es bereitet mir Unwohlsein und Kummer, sehen zu müssen, dass Menschen auch in unserer Zeit weltweit unter Streit, Kriegen, Naturkatastrophen, Hass und ideologischen Grausamkeiten, Not und Elend leiden. Mein Herz zittert angesichts dieser nicht zu übersehenden Schrecken; Gott sei´s geklagt! Aber die kleine Kerze auf meiner Fensterbank leuchtet dennoch und hält mutig dagegen:

Da gibt es in der gegenwärtigen Adventszeit doch auch viele Frauen Männer und Kinder, die dabei sind, ihren Angehörigen und Freunden kleine Geschenke und Aufmerksamkeiten zukommen zu lassen. Die Postdienste kommen kaum nach, um alle Päckchen rechtzeitig den Empfängern zuzustellen. Zugegeben, auch ich kann mich nicht nur entspannt in meinem Sessel zurücklehnen, wenn ich das geschäftige vorweihnachtliche Treiben in unseren Städten beobachte. Ist da noch etwas zu spüren von der Freude auf IHN den Retter, der nicht nur zu Weihnachten, sondern beständig unter uns weilen will, als Trost im Warten und Grund aller Hoffnung?

Es bleiben daher Fragen auch an uns: Wo finden die Vielen in Not und Sorgen Trost und ein Zuhause? Wer kann unseren Verantwortlichen in Kirche und Gesellschaft raten und beistehen, bei all den drängenden Entscheidungen? Wie finden Menschen trotz ihrer Geschäfte Räume der Stille und Muse, damit ihre Herzen nicht im Umtrieb ersticken? Und ich könnte mit derlei Überlegungen fortfahren. Die kleine Kerze auf meiner Fensterbank, die Tränen und Trübsal nicht zu spüren scheint, setzt aber ein Zeichen in der Dunkelheit und mahnt uns, nicht bei der Klage stehen zu bleiben. So komme ich zum zweiten Teil meiner Betrachtung:

Ich habe mich in der Unruhe der letzten Nacht entschieden, zu versuchen, Dir Mensch, Dir Mann oder Frau, Euch Kindern, Alten, Gesunden oder Kranken, Euch Trauernden, Besorgten, Überforderten oder Müden, etwas Wichtiges zu sagen. Es geht mir dabei um ein Weihnachtsgeschenk für Euch ganz persönlich: Ich schaue Euch allen tief in die Augen und mein Blick erkennt Eure wahre Gestalt -hört gut zu!- Ich entdecke Eure eigene Schönheit und Bedeutung, sozusagen „wie Bein von meinem Bein und Fleisch von meinem Fleisch“. Wenn Ihr so wollt, wie Brüder und Schwestern ob nah oder fern. Ich erkenne Eure unaussprechliche Würde als Personen, die von Ewigkeit gesegnet, für gut befunden und zu einem glückenden Leben bis in alle Ewigkeit bestimmt ist. Nichts kann Euch diesen kostbaren Schmuck „Mensch zu sein“ rauben, wo immer Ihr lebt und wohnt; selbst wenn Ihr Euch nicht gefallen könntet, oder wenn andere Menschen Euch ein Leid zufügten. Eure gottgegebene schöne Gestalt als „Menschen“ leuchtet wie meine Kerze auf der Fensterbank im Widerschein des ewigen Lichts. Daher seid Ihr in meinen Augen so wertvoll, dass ich mich tief vor Euch verneige, denn mir fehlen die Worte, um den nötigen Respekt auszudrücken, der Euch zukommt. Niemand hat das Recht, Euch zu missbrauchen, zu verletzen oder Schaden zuzufügen – Gott der Herr sieht es! Es gibt kein unwertes Leben. Ich kann zwar nicht überall sein und sitze, von ärgster Not befreit, so zu sagen im „Trockenen“, aber ich bin traurig und bekümmert, wenn es Euch nicht gut geht. Meine kleine weiße Kerze will mit Ihrem milden Schein auch Eure Tränen wegwischen und ein wenig Licht in jegliche Dunkelheit bringen. Lass daher bitte zu, dass diese Strahlen, als Boten der Liebe bei Dir ankommen dürfen, Du mein Bruder und Du, meine Schwester!

Ja, mein unruhiges Herz und meine Liebe brauchen Dich, wollen bei Dir sein, Dich einfach bei der Hand nehmen, als Pilger auf unserem gemeinsamen Lebensweg. Wie viel Trost, Dank und Anteilnahme durfte auch ich während der schwierigen letzten Wochen von meiner Familie und vielen besorgten Menschen erfahren, die sich um mich kümmerten. Diese tröstlichen Erfahrungen klingen mit, wenn ich Euch einen frohen und gesegneten Advent wünsche, wohl wissend, dass Warten zu lernen, Geduld zu üben, wahrlich keine leichte Aufgaben sind. Auch daher brauchen wir einander, kennt doch niemand den Tag und die Stunde, in der das Leben im stets wandelnden Prozess uns immer wieder vor neue Aufgaben stellt.

Jetzt kommt beim Schreiben Freude in mir auf, die jede Notdurft sprengt und den engen Lebensraum weitet, als könne sie Grenzen überschreiten, um alles was uns lieb und teuer ist, vor Unbill zu schützen. Darum sag ich´s noch einmal: Schön bist Du und mir teuer, Du Menschenbruder, Du Menschenschwester – unendlich wertvoll! Darf ich Dich an dieser Stelle für einen Augenblick zur Stille einladen, zu einem dankbaren Gedenken, dass wir dann, wenn wir miteinander leben, lieben, hoffen, beten und danken, erfahren können, dass wir in Wahrheit Gottes Lieblinge sind; denn der Herr hat uns fest zugesagt, dass ER SEIN Volk nicht als Waisen zurück lasse. Der Erlöser und Retter ist allezeit nahe und wirkt auch durch uns.

Wie Zeugen anbrechenden Heils wollen meine Worte Euch daher berühren, und zusammen mit dem milden Schein meiner kleinen weißen Kerze, Eurem Advent ein wenig Glanz verleihen. Gehören wir doch alle zur großen Menschheitsfamilie. Und niemand im Schöpfungsgarten Gottes soll sich von unserer Freude und Liebe ausgeschlossen fühlen. Wir Christen sind ja nicht dazu berufen, uns mit einsamer Glückseligkeit zufrieden zu geben. Erst wenn jegliches Leben durch „die kleine Kerze – „unseren Herrn Jesus Christus“ von SEINEM Licht erleuchtet ist, herrscht wahrer Friede und Versöhnung in Allem.

Ein Kind in der Krippe wird das sein, das heranwächst, um uns auf diesen Weg der Wahrheit und der Liebe zu führen. Und alle Welt ist berufen nicht nur das Kind zu verehren, sondern auch vor dem gekreuzigten und auferstandenen Herrn die Knie zu beugen. Lassen wir uns daher im Advent, in der Zeit des Wartens, wieder neu einstimmen, IHM treu zu folgen, in der Gewissheit SEINER durch nichts zu erschütternden, immer währenden, gegenwärtigen Liebe. Mein Namenspatron Franziskus hat nicht gezögert, auf seine Weise dem Herrn zu folgen. Unser heutiger Papst erhebt ebenso tröstlich seine Stimme und setzt bedeutsame Zeichen. Ein Lachen zeichnet sein Gesicht. Auch mir gelingt ein Lächeln, wenn ich Euch anschaue und im Lichte der Sonne der Gerechtigkeit erstrahlen sehe.

Und noch etwas Wichtiges ist zu sagen: Unser Heiliger Vater bittet um das Gebet. Er lädt uns zur Demut und Einsicht ein und bekennt, dass wir alle immer wieder Anlass haben, vor Gott dem Barmherzigen unsere Schuld einzugestehen und auch unseren Mitmenschen, wenn es sein muss, siebzig mal siebzig mal zu vergeben. Im Stufengebet vor der Heiligen Messe und im Beichtgespräch haben wir das in meiner Jugend immer getan und bekannt, Böses getan und Gutes unterlassen zu haben. Heute, da es nicht mehr so leicht ist, einen Beichtvater zu finden, bete ich für mich und für alle meine Geschwister öfters das Stufengebet. Denn Gott lässt nicht davon ab, uns allen durch SEINE Priester immer wieder das: „Ego te absolvo“ zuzusprechen. Und nichts kann Gott, unseren Vater hindern, SEINEM Volk und daher jedem Einzelnen von uns, zu einem beglückenden Leben zu verhelfen. In Abwandlung eines Schlagertextes singe ich daher mit und für Euch: Durch Dich wird dieser Tag erst schön, weil jeder Tag, den DU mir schenkst, ein „Sonntag“ ist.

Erinnerungen an eine bewegte Zeit

Wir befanden uns im fünften Jahr des auf allen Seiten unter großen Verlusten geführten zweiten Weltkrieges. Die deutschen Truppen zogen sich nach anfänglichen Erfolgen an allen Fronten zurück. Viele Städte lagen zerbombt in Trümmern. Dennoch wurden über die Medien Durchhalteparolen verkündet. Es kursierten Nachrichten, die eine Wende zu unseren Gunsten durch geheime Waffen versprachen. Die Menschen waren des Krieges überdrüssig, viele Soldaten verletzt, gefallen, oder in Gefangenschaft geraten. Werber bemühten sich dennoch, Jugendlichen „ in letzter Stunde“ den Waffendienst zu empfehlen.

Seit zwei Jahren, bis ins Frühjahr 1944, wohnte ich mit Billigung meiner Mutter, in einem Bauernhaus bei Verwandten auf dem Hotzenwald. Mutter- und Vater – Berger hatten mich wie einen Sohn aufgenommen. Ihre eigenen Söhne waren im Feld, der älteste Sohn bereits gefallen. In dieser Zeit litt ich keine Not. Ich arbeitete im Jahreskreislauf im Stall und auf den Feldern mit, wie die anderen Bauernbuben der Ortschaft. Die „Berger-Mutter“ mit ihren roten Wangen, den aufmerksamen blauen Augen und den nach hinten zu einer Rolle geflochtenen, grauen Haaren, war tief religiös. Der stämmige, mittelgroße, „Berger-Vater“ war stolz auf seinen Nebenberuf als Straßenwärter. Nach den wöchentlichen Gottesdiensten in der kleinen Kapelle, kam unser Pfarrer, einer alten Tradition zufolge, ins Bergerhaus zum Frühstück.

Er scheute sich nicht, wenn Not an Mann war, bei der Heuernte mit an zu packen. In meiner Erzählung „ Der Hotzenbischof“, habe ich mich dankbar seiner erinnert. Als ihm die Nationalsozialisten den Zutritt zur Schule verwehrten, gab er uns Religionsunterricht in der Stube eines Bauernhauses. Dies verband uns Buben und Mädchen noch mehr mit diesem Pfarrer, der in schweren Zeiten für uns ein Vorbild war. Ich folgte seinen überzeugenden Worten, mit denen er über unseren katholischen Glauben sprach, mit großer Aufmerksamkeit, und stellte viele Fragen. In seinem Abschlusszeugnis zeichnete er mich als seinen besten Schüler aus.

In der 7. und 8. Klasse besuchte ich die Schule in Kleinherrischwand. Einige der Buben und Mädchen lernte ich in diesen zwei Jahren näher kennen. Den Jungen war ich zwar körperlich unterlegen, sie respektierten mich aber der schulischen Leistungen wegen. Unsere Lehrerin, eine hübsche Elsässerin, die sich oft in verführerischer Pose mit ihrem kurzen Rock auf die ersten Bänke setzte, habe ich nicht nur wegen ihres lebendigen Unterrichts angehimmelt.

Zu Ostern 1944 war die Schulzeit zu Ende. Mein Vater hatte mir in einem seiner Briefe Ende August 1943 mitgeteilt, dass er als Gebirgsjäger bereits seit 4 Jahren an verschiedenen Fronten im Einsatz sei. Er ließ mich wissen, dass er mich in jeder Hinsicht bei meiner Berufswahl unterstütze. Ich könnte bei ihm in Karlsruhe wohnen, falls ich den Besuch einer Hochschule anstrebte. Nach einem Gespräch mit meiner Mutter entschied ich mich aber, wieder nach Rheinfelden zurück zu kehren. Ich beabsichtigte, eine kaufmännische Lehre zu beginnen, da mir dies aus damaliger Sicht wünschenswerter erschien.

Nach dem Schulabschluss verabschiedete ich mich dankbar von den liebenswerten „Berger-Eltern“ mit dem Versprechen, dass ich sie nicht vergessen und wieder besuchen werde. Unverzüglich stellte ich mich bei der Firma Metzger, einer größeren Bauunternehmung in Rheinfelden vor, wurde akzeptiert, begann die Lehre im April 1944, besuchte in dieser Zeit die Handelsschule und beendete beides erfolgreich mit der Gehilfenprüfung zum Baukaufmann im April 1947. Da nach dem Krieg wenig Aussicht bestand, als Baukaufmann irgendwo unter zu kommen, blieb ich der günstigeren Bedingungen wegen, in dieser Firma bis zum Jahre 1962.

Zunächst wurde ich in der Lohnbuchhaltung eingesetzt und bediente zusätzlich die Besucher mit ihren Anliegen am Schalter. Manchmal kam in mir Ärger auf, wenn ich die Abwesenheit unseres Chefs mitzuteilen hatte, obwohl er oben in seinem Büro saß. Angenehmer war es, wenn sich der Lohnbuchhalter, der Wert auf gutes Essen legte, sein Vesper holen ließ, und mir einen nahrhaften Trägerlohn zuteilte. Ich hatte auch die angenehme Aufgabe, wöchentlich die Lohntüten zu den Baustellen zu bringen. Dort war ich in dieser Funktion bei den Polieren, Maurern und Hilfsarbeitern gern gesehen, konnte mich auf den Baustellen umsehen, und den Fortschritt der Arbeiten beobachten. Noch heute erfasst mich ein Kribbeln, wenn im Frühjahr die Baumaschinen wieder brummen.

An die regelmäßige Arbeitszeit, auch an Samstagen von 8-12, und an den anderen Tagen auch mittags von 13-17 Uhr, musste ich mich aber erst gewöhnen. Schon wenige Minuten nach Feierabend klopfte ich an die Türen meiner Freunde Rolf und Berthold. Wenn wir abends nicht zu dritt auf Tour waren, wurden wir gefragt, ob einer von uns krank sei? Berthold verdiente damals als Uhrmacherlehrling am meisten, und hielt uns oft über Wasser, wenn wir schwach bei Kasse waren.

Ich wohnte wieder zu Hause und bekam ein eigenes Zimmer, das ich in späteren Jahren mit einfachen Möbeln und einem Radio nach eigenen Vorstellungen einrichtete. Unsere Mutter hatte es mit mir, einem 14-jährigen, eigenwilligen Knaben, und meinem ebenso lebendigen, vier Jahre jüngeren Bruder nicht leicht. Sie achtete streng auf die Einhaltung der Essenszeiten und die häusliche Ordnung, als wir jünger waren, gelegentlich unter Zuhilfenahme ihres Teppichklopfers. Mein Bruder warf mir, wahrscheinlich zu recht vor, ich sei oft schneller gewesen, wäre durchgehuscht und er hätte an meiner Stelle die Prügel bezogen. Unsre Mutter ließ mir ansonsten große Freiheit, sagte nur, wenn ich spät nach Hause kam: „ich solle ihr keine Schande machen“ was immer das bedeutete. Gelegentlich gab es, wie mir schien wegen ihres Starrsinns, vermutlich ein Erbe ihres autoritären Vaters, lebhaft geführte Auseinandersetzungen. Ein Grund mehr, dann Abstand zu halten, und Verständnis bei meinen Freunden zu suchen.

Der Krieg war gelegentlich auch in Rheinfelden zu spüren. Wir saßen oft nach dem Sirenengeheul nachts ängstlich im Luftschutzkeller, hörten die Geräusche der Flugzeuge und einmal den Einschlag von Bomben im Industriegebiet. Tiefflieger griffen damals auch Fahrzeuge auf Zufahrtsstraßen an. Im Herbst 1944 wurden wir zum Schanzen nach Efringen-Kirchen abgestellt. Wir mussten Panzergräben herstellen. Gleichzeitig waren wir Weinbauern zugeteilt, um bei der Lese mit zu helfen. Ich habe nie vergessen, wie der altersschwache Bauer, dem wir zugeteilt waren, volltrunken, ohne Schaden zu nehmen, eine steile Treppe des Hauses herunter kugelte, wieder aufstand, und auf unsicheren Beinen davon wankte.

Einige Wochen später, ich war damals gerade 15 Jahre alt, wurde ich für drei Wochen in ein „Wehrertüchtigungslager“ zur vormilitärischen Ausbildung einberufen. Dann kam es zu einer entscheidenden, uns sehr überraschenden Situation: Wir wurden in einen Saal geführt, in dem Werber an den Wänden Photographien der verschiedenen Waffengattungen aufgehängt hatten. Mich überzeugte der glänzende Vortrag über die Vorteile eines Achtrad-Panzer-Spähwagens, der vorn und hinten steuerbar war, und dessen Reifen sich bei einem Durchschuss wieder selbständig abdichteten. In meinen Augen eine Lebensversicherung, und so meldete ich mich mit andern Kameraden aus derselben Klasse freiwillig zur Waffen-SS. Als ich dies abends stolz Bertholds Vater erzählte, hätte er mich am liebsten verprügelt. Er erklärte mir in scharfem Ton: „Der Krieg sei doch verloren!“ Ich habe ihm diese Gardinenpredigt nicht übel genommen, und ihn auch nicht verraten. Er wäre ja sonst wegen Zersetzung der Wehrkraft verhaftet worden. Die Ereignisse nahmen nun ihren eigenen Lauf. Unsere Mutter war in großer Sorge.

Wir wurden Wochen zur Ausbildung einberufen. Auf unserer Fahrt erlebten wir in Immendingen den ersten Tieffliegerangriff und suchten, wo immer möglich, Deckung. Nach diesem Angriff war die Begeisterung bei vielen Schulkameraden dahin. Sie flohen, und kamen wieder zurück nach Rheinfelden. Mit zwei weiteren Kameraden,die nicht desertieren wollten, gelangte ich nach einer Übernachtung im zerstörten München, nach Mittenwald. Dort bekam ich zum Glück eine schwere Angina und lag deshalb einige Zeit auf der internen Krankenstation. Dadurch entkam ich der militärischen Ausbildung,wurde nicht eingekleidet, und bekam auch keine Blutgruppe tätowiert. In dieser Krankenstation lagen nur altgediente Soldaten, die versuchten, das Kriegsende abzuwarten. Sie gaben mir Nachhilfe zur Beurteilung der gegebenen Lage. Als am 20. April 1945, an Führers Geburtstag, keine Geheimwaffen zum Einsatz kamen, überzeugten mich die Argumente der Landser. Ich entschloss mich danach, trotz der damit verbundenen Gefahren, zu entkommen.

In meiner Hitlerjugend-Winteruniform, mit Brot und Wurst in einem Einkaufsnetz, und einem Regenschirm, stieg ich nachts über die Kasernenmauer. Mein Ziel war, Richtung Bodensee zur Tante nach Singen zu gelangen. Zu Fuß, gelegentlich auf einem Traktor, erreichte ich nach Radolfzell. Dort wurde ich mit anderen Jugendlichen von einer Streife gestellt, eingekleidet und zur Verteidigung von Radolfzell eingesetzt. Wir bauten uns zur Übernachtung Schützenlöcher. Ich wurde zum Zugmelder und Verbindungsmann eingeteilt. Diese Aufgabe führte ich einmal durch, um zu berichten, dass französische Panzer auf der Straße vorrückten. Wir befanden uns auf einem kleinen Hügel. Einige Stunden später kämmten gepanzerte Fahrzeuge auch unser Gelände durch. Wir versuchten uns vor dem Maschinengewehr-Feuer zu schützen und robbten in einer Ackerfurche in den toten Winkel. Ich war nicht einmal in dieser Technik erfahren, und  blieb, obwohl ich bat, auf mich zu warten, zurück. Das war mein Glück, denn ich konnte nun beobachten, wie meine Kameraden, die bergauf über freies Feld zu einem Waldstück zu gelangen suchten, nacheinander wie die Hasen abgeschossen wurden.

Ich handelte intuitiv: Bei der Einkleidung in Radolfzell hatte ich keine Unterwäsche gefasst, sondern meine Winteruniform anbehalten. Ich vergrub meinen Wehrpass, ließ den Waffenrock und die Waffen in der Ackerfurche zurück, war nun als Hitlerjunge erkenntlich, schwenkte eine weiße Binde, als Zeichen mich zu ergeben, und ging den Franzosen entgegen. Mehrmals wurde ich energisch befragt, ob ich zur Waffen-SS gehörte. Ich gab mich als Hitlerjunge aus, der ich ohne Ausbildung und je einen Schuss abgegeben zu haben ja auch war. Dennoch war es eine schwierige Situation, denn die Pistolen saßen damals sehr locker. Ich weiß auch nicht wie man mich behandelt hätte, wenn ich die Blutgruppe gehabt hätte, denn alle Angehörigen der Waffen-SS wurden aussortiert.

Wir wurden mit erhobenen Händen gesammelt, durften sie erst nach einiger Zeit auf den Kopf legen, uns dann später setzen, und wurden nach Radolfzell transportiert. Dort brachte man uns in das Stadtgefängnis. Ich war noch nie an einem solchen Ort, bekam schreckliche Angst, und weinte. Ein französischer Offizier, führte mich mit gezogener Pistole aus dem Gefängnis und übergab mich in einer requirierten Wohnung, mit der Aufforderung, mir zu  essen zu geben und weiter zu helfen, einer deutschen Familie. Als ich anderntags erwachte, war die Wohnung leer. Ich bedankte mich freundlich auf einem Zettel bei meinen Gastgebern, klaute ein Fahrrad, und fuhr nach Singen zu meiner Tante. Diese schlug die Hände über dem Kopf zusammen, als ich etwas zerzaust dort ankam.

Um von Singen weiter zu kommen, brauchte man einen Passierschein, der schwer zu erlangen war, weil viele Menschen sich in der großen Stadt sammelten, die ebenfalls weiter wollten. Nach einigen Tagen gelang es mir, meine Tante davon zu überzeugen, dass ich unbedingt nach Hause wollte. Ausgestattet mit einem Einkaufsnetz, Verpflegung, und einem Regenschirm, gelangte ich an die Stadtgrenze, die mit einer bewachten Schranke versehen war. Hier hatte ich wieder Glück: Eine junge, hübsche Frau, zog einen Leiterwagen. Ich gesellte mich zu ihr mit der Bitte, mich nicht zu verraten und zog deren Leiterwagen durch die Schranke, während die französischen Soldaten sich interessiert mit ihr unterhielten.

Auf einer kleinen Kommandantur außerhalb Singens, gelang es mir dann einen Passierschein bis Waldshut zu bekommen. Nun stiefelte ich über den Randen, von Schranke zu Schranke, Richtung Heimat. Gelegentlich forderten mich die Wachen auf, ihr Geschirr zu spülen. Ich entschloss mich in Dogern, einem kleinen Ort bei Waldshut, eine Verlängerung meinen Passierscheins zu bekommen, und kam dann zu Fuß nach diesen Erlebnissen wieder in Rheinfelden an. Meine Mutter war mehr als überrascht, als ich gesund und wohlbehalten wieder zu Hause war.

Nach Kriegsende hatte die Bauunternehmung Metzger wieder mühsam den Betrieb eröffnet. Dort stellte ich mich vor, um meine Lehre fortzusetzen. Als ich mich am Schalter meldete, und das vertraute Gesicht des Lohnbuchhalters sah, erschrak ich sehr. Er war so abgemagert, dass ihm der Kragen seines Hemdes mehrere Zentimeter vom Hals abstand. Nur ganz langsam begriff ich, was ein verlorener Krieg und die französische Besatzung bedeuteten.

Der Zusammenbruch des Ideals von Führer Volk und Vaterland, war fast noch schwerer zu ertragen, als der andauernde Hunger und der Kampf ums Überleben. Nun wurde uns mit schonungsloser Deutlichkeit auch vor Augen geführt, was in den KZ-Lagern geschah. Davon hatte auch ich keine Ahnung. Umso mehr erschütterten uns die grauenvollen Bilder und die Berichte über die Gräueltaten. Meine Reaktion darauf war: Nie wieder Krieg und der Entschluss, dem Frieden ohne Waffen in der Hand zu dienen. Ich wurde später als einer der so genannten „weißen Jahrgänge“ auch nicht mehr zur Bundeswehr eingezogen. Gott sei Dank, musste ich bis zum heutigen Tag niemals auf Menschen schießen.

Es gab aber auch andere Erfahrungen: Nach dem Krieg wollte niemand mehr Nationalsozialist gewesen sein. In der Handelsschule grüßten die Lehrer uns nun mit Grüß Gott. Alles, was mit Stolz auf das deutsche Vaterland zu tun hatte -das war ja nicht nur das Dritte Reich- erschien bedeutungslos. Ich begann mich mit der französischen Nation und den Vorstellungen von einem geeinten Europa anzufreunden. Erst viel später, nach einer längern Reise mit meinem Pfarrer durch ganz Frankreich, die mit einem gesalzenen Strafmandat wegen Geschwindigkeitsüberschreitung endete, kam es zu einer ersten Ernüchterung mit den Fragen, ob wirklich nur wir Deutsche an diesem Elend schuldig waren? Ich begann, ohne darüber zu reden, mich zu fragen, was andere Nationen getan hatten? Die Atombomben auf Japan, der grausame Luftkrieg gegen die wehrlose Zivilbevölkerung in deutschen Städten, die Vertreibung Deutschstämmiger aus dem Osten und vieles andere erschien mir ebenso kritikwürdig. Es war aber mehr als erstaunlich, dass die Älteren unter uns, die ebenfalls geschockt waren, große Nachteile befürchteten, wenn sie von ihren Erfahrungen im Dritten Reich erzählt hätten.

Ich habe selbst erst viele Jahre nach Kriegsende, außerhalb der Familie, zum ersten Mal mit gleichaltrigen Freunden über diese bittere Zeit gesprochen. Ein befreundeter Schweizer, dem es gestattet war, während des Krieges die Schule in Rheinfelden-Schweiz zu besuchen, erklärte in der Runde, dass er in der Schweiz “Sauschwabe“ in Deutschland „Schweizerlöli“ genannt wurde. In Wirklichkeit hätte er auch ganz gern die Hitlerjugend-Uniform wie wir getragen. Während bei uns in den Hungerjahren nach dem Krieg geklaut wurde, was nicht niet- und nagelfest war, musste wir mit der Erfahrung zu Recht kommen, dass, nach der Grenzöffnung zur Schweiz, dort die Einkaufsnetze mit den Lebensmitteln, unbeschadet an den Fahrrädern hängen bleiben konnten. Wir hatten doch auch unsere Ehre, und sehr darunter gelitten, dass der unselige Krieg mit dazu beitrug, unsere Wertvorstellungen in Deutschland zu destruieren.

Wir litten in Rheinfelden sehr unter der französischen Besatzung. Die Maschinen und technischen Anlagen, die noch zu gebrauchen waren, wurden als Beute abtransportiert. Viele Menschen kamen wegen ihrer Nähe zu den Nationalsozialisten in Lager zur Entnazifizierung. Auch der Vater eines Freundes, der während des Krieges unabkömmlich gestellt wurde, ohne die Partei-Ideologie zu vertreten, wurde längere Zeit in ein Lager gesteckt. Es fehlte an allen Ecken und Enden am Nötigsten. Vor allem in den Jahren 1945 und 1946 mangelte es an Nahrungsmitteln. Wir litten schrecklichen Hunger:

Die Mutter teilte uns das Brot zu, und ich nahm mir etwas von dem, was meinem Bruder gehörte. Er erregte sich so, dass er keine Luft mehr bekam. In größter Panik spritzte ich ihn mit kaltem Wasser ab, um ihn vor dem Ersticken zu retten. Eines Tages aber sagte unsere Mutter, sie habe nichts mehr zu essen. Wir Buben gingen dann gemeinsam nachts auf die umliegenden Felder und brachten Lauch nach Hause. Selbst Kartoffeln gehörten zu den Kostbarkeiten. Eine reichliche Kirschenernte nutzten wir Buben aus, um unseren Hunger auf den Bäumen zu stillen. Wir gingen alle hamstern. Mein Bruder war ein liebenswerter, hartnäckiger Bettler. Wenn er vorn zur Türe hinaus komplimentiert wurde, erreichte er es, bei einem erneuten Versuch oft über den Hintereingang, Beute zu machen. Ich war eher in der Lage zu verhandeln, wenn brauchbare Gegenstände aus unseren Besitz gegen Lebensmittel einzutauschen waren. Eines Tages wanderten wir über Säckingen hinauf nach Giersbach zu unseren Verwandten, bekamen Speck und Butter zugesteckt, und einen Sack mit Kartoffeln. Auf dem Rückweg machte unsere Mutter schlapp, und wir zogen sie zusammen mit den Kartoffeln auf dem Leiterwagen nach Hause.

Sie hatte in der Hungerzeit zu Weihnachten Plätzchen gebacken, um uns eine Freude zu machen. Ich entdeckte die Dose in ihrem Schrank im Schlafzimmer versteckt, und versorgte mich mit einer Handvoll dieser Süßigkeiten. Nach einigen Tagen startete ich einen erneuten Versuch und staunte sehr, denn ich hatte den Eindruck, dass ich nicht so viele Plätzchen entwendet hatte. Trotzdem bediente ich mich weiter. Dann kam der Weihnachtsabend. Unsere Mutter wollte uns mit dem Gebäck überraschen, und kehrte blass, tief gekränkt, enttäuscht und wütend, mit der Frage zurück, wer die Plätzchen gegessen habe? Ich gestand betreten meine Schuld mit der Bemerkung, dass ich zwar davon genommen, aber nicht alle gegessen hätte. Mein Bruder schloss sich mit seinem Bekenntnis an, und bemerkte, nun sei ihm endlich klar, wer auch noch genascht habe. Die Weihnachtsstimmung war unter diesen Umständen erheblich beeinträchtigt.

Wir drei waren damals sehr auf einander angewiesen, vor allem nach der Scheidung unserer Mutter. Mein Stiefvater wurde als Kommunist lange in einem Konzentrationslager interniert und kam erst nach dem Krieg wieder frei. Er heiratete erneut, erkrankte, und hinterließ nach seinem Tod in den Nachkriegsjahren Frau und Kinder. Erst in diesen Tagen begriff ich nach einem Gespräch mit meinem Bruder, dass er im Unterschied zu mir, seinen Vater gar nicht erlebte. Ich bin leider nach der Kinderzeit, meinem Stiefvater nie mehr begegnet, um ihm danken zu können.

In der Rolle des Ältesten war ich immer gefordert, einzuschreiten, wenn es galt, die Regeln und Ansichten unserer Mutter zu verteidigen. Ich nahm sie in Schutz, wenn sie sich aus irgendwelchen Gründen mit den Mietern angelegt hatte, obwohl ich manchmal unsicher war, ob sie im Recht war. Nachdem mein Bruder ebenfalls Arbeit in der Firma Metzger fand, wanderte auch der größere Teil seines Verdienstes, wie bei mir, in die Familienkasse. Einen bescheidenen Anteil unserer Entlohnung, gab uns die Mutter zur eigenen Verwendung. Sie selbst arbeitete, nachdem die Grenze wieder geöffnet war, in der Schweiz, um Geld zu verdienen.

Damals gab es bei uns weder Radio noch Fernsehen. Wir sangen daher viel zusammen. Alle Volkslieder und Schlager, die unsere Mutter einst mit uns sang, gehören heute noch zu meinem Repertoire. Mir fällt im Moment das schöne Lied in Schweizer Mundart ein: „Lueget vo Berge und Tal, flieht scho de Sunneschtrahl…“, das wir abends sangen. Wenn wir den Ton nicht genau trafen, war das für Mutters Ohren unerträglich. Entsprechend deutlich fiel dann Ihre Kritik aus. Ich wunderte mich auch oft, wer ihr die Regel beigebracht hatte, nach einem guten Essen sofort unser Geschirr von Hand zu spülen. Es gab damals bei uns weder Spül- noch Waschmaschine.

Unsere Mutter produzierte manche komisch Szene: Sie beschloss einmal, uns Buben einzusetzen, um die Wohnung gemeinsam zu streichen. Weder mein Bruder noch ich hatten die geringste Ahnung wie das geht. Jeder meinte aber zu wissen, was zu geschehen habe. Die Mutter behielt sich vor, dafür zu sorgen, dass bei diesem Geschäft alles sauber blieb. Es ist nicht zu beschreiben, wie wir uns gegenseitig in die Haare gerieten, und wie die Wohnung nach unserer Arbeit aussah.

Bei anderer Gelegenheit saß unser Untermieter mit uns zusammen in der Küche. Unserer Mutter entwich vernehmbar ein „ Windchen“. Sie behielt die Fassung und setzte die unschuldigste Miene der Welt auf. Wir drei Herren bemerkten die Peinlichkeit sofort, und konnten nur mühsam unser Lachen unterdrücken. Es war wie eine Erlösung,als mein Bruder zu kichern begann. Wir amüsierten uns alle köstlich,während die Mutter noch einen letzten Versuch wagte, die reine Unschuld zu spielen.

Ich war glücklich, als mein Freund Harald bei uns ein Zimmer bekam. Seine Leidenschaft galt der Photographie. Unsere Mutter konnte es nicht fassen, als sie bei einem nächtlichen Kontrollgang feststellte, dass Harald die Küche in eine Dunkelkammer verwandelt hatte. Das Mietverhältnis wurde mit sofortiger Wirkung gelöst. Ich konnte aber leider meinen Freund nicht retten. Wir verblieben dennoch bis zum heutigen Tag in einem beidseits sehr erfreulichen Kontakt.

Mit der hochdeutschen Sprache stand unsere Mutter zeitlebens auf Kriegsfuß. Einmal erklärte sie uns entrüstet, nachdem sie von einem Kuraufenthalt zurückkam, wie wenig man sie dort verstanden habe. Sie habe sich doch so bemüht hochdeutsch zu reden und eine Mitbewohnerin gebeten: „Bringen sie mir bitte meine Schlappen!“ und als diese nicht reagierte, sich verbessert: „Ich mein die Finken da!“ Sie sei sehr enttäuscht gewesen, als ihre Mitbewohnerin nicht begriff, dass sie ihr die Hausschuhe bringen sollte.

Die Mutter fuhr bei anderer Gelegenheit per Bahn über das nahe gelegene Basel hinaus nach Weil. Dort musste sie die Strecke von Basel nach Weil am Bahnschalter nachlösen. Sie stellte kühl und gelassen fest, als ihr der Betrag zu hoch erschien: „ Sie sind ja verrugt!“ der Beamte schrie erregt: „Beamtenbeleidigung!“ unsere Mutter entgegnete unbeeindruckt und gelassen: „jetzt spinnt er au no!“

Einige Jahre später: Mein Bruder ist längst ein erfahrener Handelsvertreter und erfolgreicher Verkäufer. Er begleitet unsere Mutter, die ein Sofa zum angebotenen Sonderpreis erwerben wollte. Sie erkundigte sich, ob der günstige Preis gehalten würde. Der Verkäufer bejahte. Dann betrachtet sie das Objekt genauer, entdeckt einen kleinen Fehler, und handelt einen Sondernachlass aus. Es gelang ihr auch, erfolgreich auf den drei Prozent Skonto bei Barzahlung zu bestehen. Als sie aber noch ungeniert auf der Forderung beharrte, ihr stünden laut Angebot bei der Höhe des Preises einige Handtücher gratis zu, machte sich mein Bruder aus dem Staub.

Unsere älteste Tochter, eine gebürtige Münsteranerin, war mit uns zu Besuch bei der Rheinfelder-Oma. Auf der Heimreise erklärt sie uns, die Oma sei ja sehr lieb zu ihr gewesen, habe ihr Schokolade geschenkt, und viel mit ihr geredet, und dann – unter einem Seufzer – : „wenn sie nur deutsch reden könnte!“

Die Mutter hatte aber auch andere Seiten: Ich wurde zunehmend älter, eigenwilliger, kritischer und erprobte mein Überlegenheit. Sie verstand es jedoch ausgezeichnet, mich bei den nun häufigeren Konflikten „auf die Palme zu bringen“. Einmal reizte sie mich durch ihre Argumentation und gewöhnliche Sprache bis zur „Weißglut“. Ich hielt ein kleines Küchenmesser in der Hand und warf es in meiner Wut wie ein Indianer, so dass es in der Küchentüre stecken blieb, mit der Bemerkung: „Jetzt ist es genug!“ Wenn sie sich dann in ihr Zimmer zurück zog oder auf einem Stuhl schaukelte und Lieder summte, wusste ich, weiter zu reden macht keinen Sinn. Die einzige Möglichkeit bestand dann darin, Abstand zu halten, mich aus dem Staube zu machen. Erst mit den Jahren begriff ich, dass ein gelegentlicher Rückzug und ein Ausgleich von Distanz und Nähe im gegenseitigen Interesse lagen.

Wenn sich der Pulverdampf verzogen hatte, schenkte ich ihr, wie zuvor, nach dem sonntäglichen Gottesdienst Blumen, oder brachte Kuchen mit. Gelegentlich fuhren wir auch einträchtig nach Basel, um uns die Stadt und die Geschäfte anzusehen. Auf einer Photographie aus jener Zeit, reichte ich meiner Mutter den Arm. Sie ging, schick gekleidet, an meiner Seite. Wir schauten beide auf diesem Bild sehr zufrieden aus.

Wenn wir uns bei einem Wortgefecht nicht einigen konnten, und Abstand nötig war, besuchte ich enttäuscht und geknickt, meinen Freund Ernst. Er hatte Verständnis für meinen Kummer und war in der Lage, mich meistens mit tröstenden Worten wieder zu ermutigen. Ihn kannte ich schon vor Ende des Krieges. Er dressierte Schäferhunde. In der damaligen Zeit gründeten wir den Wassersportverein Möwe mit den hohen Idealen: „Nicht zu rauchen, keinen Alkohol zu trinken, Abstand von Frauen zu halten und viel Sport zu treiben. Ernst besaß auch eine große Sammlung an Gewehren und Pistolen, die wir in seinem eigenen Schießstand zu Übungen benutzten. Einmal spornte er mich zu sportlichen Übungen an. Ich folgte ehrgeizig und verbissen seinen Anordnungen. Danach lag ich bei ihm mit Fieber im Bett. Ernst besaß aber auch einen schönen Flügel auf dem ich improvisieren durfte. Er übte als Musikstudent oft an der Orgel, während ich den Blasebalg zu treten hatte.

An einem trüben Tag, saßen wir unter dem tief gezogenen Dach des alten Hauses. Um uns herrschte eine gemütliche Unordnung. Wir hörten den Regentropfen zu, die auf das Dach prasselten. Unsere einzige Aufgabe bestand darin, harte Erbsen aus trockenen Schoten zu pulen. Ich habe den Klang der Erbsen noch im Ohr, die in unsere Blechschüsseln fielen, und spüre erneut das Vergnügen, in die Schüssel zu greifen, und die Erbsen durch die Finger gleiten zu lassen.

Ernst macht seinem Namen alle Ehre. Manchmal erschien er mir bei seinen musikalischen Vorlieben fast zu ernst. Er spielte mit Hingabe Kompositionen von Bach. Da ich mich aufgeschlossen erwies, führte er mich beharrlich in die klassische Musik ein. Ich besitze heute noch Schallplatten und CDs in meiner Sammlung, die er mir schenkte. Leider konnte er wegen einer Verletzung nicht mehr selbst musizieren und starb vor wenigen Jahren. Ich hatte aber zusammen mit meiner Frau das Vergnügen, seinen Sohn Rainer, der es wie so oft im Leben weiter brachte, als sein Vater, anlässlich eines Konzertes an der Orgel zu hören. Er spielte Werke von Buxtehude. Für mich wirkten seine Darbietungen über die Perfektion hinaus, wie musikalische Gebete.

Am 5. März 1946 erhielt ich einen Brief von meinem Vater, dass er seit 6 Wochen wegen einer schweren Krankheit stationär behandelt werde. Damals waren die Besatzungszonen streng abgegrenzt. Nach früheren Erfahrungen zog ich es vor, die Reise nach Karlsruhe ohne Passierschein anzutreten. Ich wollte meinen kranken Vater aber unter allen Umständen besuchen. Es gelang mir, unauffällig und ohne  Kontrolle die Schranke zu passieren und die Gaststätte Baden, die meine Stiefmutter bewirtschaftete, zu finden.

Sie ging sofort mit mir zum Krankenhaus. Wir standen in der offenen Tür zum Bettensaal. In den etwa 30 Betten lagen Patienten in gleichen weißen Bettbezügen. Meine Stiefmutter sagte zu mir: „ Franzel, such Deinen Vater!“ Ich war ihm seit meiner frühen Kindheit nicht mehr begegnet und besaß nur Photos von ihm. Wie an einer Schnur gezogen, ging ich auf sein Krankenbett zu. Ich erinnere mich aber nicht mehr daran, was wir uns zu sagen hatten. Es war das letzte Mal dass ich meinen geliebten Vater lebend sehen konnte. Am 26.8.1946 starb er. Ich fuhr wieder nach Karlsruhe zur Beerdigung. Damals lagen in einer Wiege Zwillinge, meine Schwester Doris und mein Bruder Peter, die unseren Vater nie kennen lernten. Obwohl auch ich ihn wenig erleben konnte, manchmal auch sehr vermisste, und nur seine Briefe und zwei Ölgemälde von eigener Hand zur Erinnerung in Ehren halte, blieb ich ihm über seinen Tod hinaus in Gedanken immer nahe.

Nachdem ich in die „Jahre“ kam, begann ich mich immer mehr für unsere Verwandtschaft zu interessieren. Verwandte mütterlicherseits aus dem Hotzenwald, von Todtmoos, Engelschwand und Giersbach besuchten uns gelegentlich. Eine Schwester meines Vaters, Tante Gretel und ihr Mann, ein Zollbeamter, kamen öfters zu Besuch. Tante Gretel hielt die väterliche Familie zusammen. Zu den Verwandten in Amberg in der Oberpfalz, dem Geburtsort meines Vaters, und seinen in Bayern verstreuten Geschwistern, gab es in der Kriegs- und Nachkriegszeit leider keine Kontakte. In späteren Jahren lernte ich sie aber alle kennen und schätzen.

Harald, unser ehemaliger Untermieter, war in der bewegten Zeit bis zu meinem einundzwanzigsten Lebensjahr und darüber hinaus, mein geschätzter Gesprächspartner. Er frug mich damals öfter, warum ich nicht studiere. Ich gab ihm zur Antwort, dass es mir gut gehe, und ich kein Ziel erkennen würde, für das es sich lohne, ein Studium zu wagen. Das sollte sich später ändern. Ich erinnere mich aber gern an die regelmäßigen Besuche im Basler – Kunstmuseum und an die ausgezeichneten Vorträge über die „ Alten Meister „ während eines Winterhalbjahres.

Nun steuert meine Erzählung auf das bedeutungsvolle, Datum der Volljährigkeit zu. Meinen einundzwanzigsten Geburtstag habe ich sicherlich ausgiebig gefeiert. Ich kann mich aber beim besten Willen nicht mehr erinnern, wo oder mit wem ich diesen Geburtstag verbrachte. In einer nächsten Erzählung, werde ich über Erfahrungen als Baukaufmann reden und darstellen, wie ich zur Würde eines Stadtrats von Rheinfelden aufstieg.

 

Begegnungen

Die kalte Jahreszeit gibt endlich ihre Herrschaft ab. Erste wärmende Sonnenstrahlen locken wieder Leben hervor: Winterlinge entfalten ihre gelben Blüten, Tulpen spitzeln in zartem Grün ans Licht und wetteifern mit frischen Erdhügeln der Maulwürfe, um die Gunst, gesehen zu werden. Während unzählige pralle Knospen an Bäumen und Büschen ihr Frühlingskleid noch ummanteln, strahlen Forsythien bereits weithin in leuchtendem Gelb. Der alljährliche Zauber, in bunten Farben erwachender Natur, und das vielfältige Konzert nistender Vögel, stehen nahe bevor.

In der Stadt haben sich die Kaufhäuser längst auf Frühling eingestellt. Sie bieten Winterware besonders günstig an, und versuchen, mit reizenden Frühjahrskollektionen, das Interesse der Kunden zu wecken. Menschen drängen in dichten Schlangen durch die Strassen. Pulsierendes Leben und Stimmengewirr erfüllt die Einkaufszonen. Vornehm gekleidete Damen und Herren, stehen beeindruckt vor den Schaufenstern mit der neuen Mode. Kinder nutzen jede Lücke in der Menschenmenge zu einem fröhlichen Spiel. Hunde jagen Tauben, und spüren, aufgeregt mit dem Schwanz wedelnd, viel versprechenden Düften nach. Musikanten und Artisten gelingt es, Interesse zu wecken und ein dankbares Publikum um sich zu versammeln. Verliebte schlendern Hand in Hand durch Parkanlagen. Jung und Alt räkeln sich bequem auf Bänken und Stühlen. Sonnenanbeter knöpfen schon Hemden und Blusen auf, um die wärmende Sonne hautnah zu spüren. Ein prickelndes Werben, der Wunsch zu sehen und gesehen zu werden, liegt in der Luft.

Ein in die Jahre gekommener Mann, mit lebhaften Augen unter leicht buschigen Brauen, sitzt auf einem gepolsterten Korbstuhl, vor einem gut besuchten Café. Die Lederjacke lässig über einen freien Stuhl gelegt, scheint er den Tag in vollen Zügen zu genießen. Ab und zu huscht ein Lächeln über sein Gesicht, als ob er sich an ein schönes Erlebnis erinnerte. Gelegentlich schließt er für eine Weile die Augen, um dann wieder aufmerksam die Menschen zu beobachten, die an ihm vorbei promenieren: Mütter  mit gefüllten Einkaufstaschen, die, ihre Kinder hinter sich her ziehend, zur nahe gelegenen U-Bahn-Haltestelle eilen. Adrett gekleidete Damen, die mehr oder weniger auffordernd, an ihm vorbei stolzieren, und mit Halbwüchsigen abwechseln, die ein Eis in der Hand, den Mann neugierig und ungeniert mustern. Er scheint sich bei all dem blendend zu unterhalten.

Schon eine Weile sitzt eine junge Frau in der Nähe und beobachtet interessiert den Mann, dem es offensichtlich Vergnügen bereitet, ab und zu über den Rand seiner Zeitung hinweg, hübsche Frauen zu bewundern. Es scheint ihn nicht sonderlich zu stören, seine Lektüre zu unterbrechen, um das kokette Lächeln einiger Damen zu erwidern. Nun wendet er sich einer jungen, hübschen Bedienung zu, die ihm Tee serviert. Er bestellt ein Stück Kuchen und lehnt sich danach entspannt in  seinen Sessel zurück, um den anregenden Frühlingstag und das überquellende Leben um sich zu genießen. Einige Tauben tappen schwankend herbei und warten prüfend auf den nächsten kleinen Brocken, der ihnen vom »Tisch der Reichen« zugeworfen wird.

In diesem Moment erinnerte sich die Beobachterin hinter ihm an eine Szene, wenige Stunden zuvor, in der Eisenbahn: Es war mit Sicherheit derselbe Mann, der sich aufmerksam für die Menschen in seinem Abteil interessierte. Eine Gruppe munterer Schüler stieg zu und verteilte sich unter lauten Gesprächen auf freien Plätzen. Kaum angekommen, knabberten alle genüsslich Salzstangen und ließen ihre Sprudelflaschen kreisen. Ein hübsches Mädchen, mit heute selten zu sehenden blonden Zöpfen, schien die Aufmerksamkeit des Mannes zu erregen. Über einige Stationen entspann sich ein Spiel zwischen ihnen. Das Mädchen, bemüht, sich von der besten Seite zu zeigen, wagte immer wieder einen scheuen Blick. Fasziniert von deren jugendlichem Charme, bewunderte auch er ab und zu das Mädchen.

Wer mag dieser Mann sein, dem sie vor Stunden in der Eisenbahn und nun zufällig im Straßencafé begegnet? Unwillkürlich kreisen ihre Gedanken um ihn. Was ihm Frauen wohl bedeuten? Hatte sie sich an diesem Frühlingstag doch auch „stadtfein“ gemacht und war vor dem Spiegel mit ihrem out-fit zufrieden. Wie könnte sie mit dem Mann ins Gespräch kommen? Würde ihm ihre Gesellschaft zusagen oder könnte er eine Annäherung missverstehen und sie zurückweisen? Trotz derartiger Bedenken, überwog ihr Interesse, dem „Unbekannten“ zu begegnen. Kurz entschlossen stand sie auf und näherte sich seinem Tisch mit der Frage, ob noch ein Platz frei sei?

Sie schien nicht sonderlich überrascht, als er ihr, entgegen ihrer Befürchtungen, freundlich einen freien Stuhl anbot. Könnte es sein, dass er sie attraktiv findet? Schließlich ist sie mit ihrer sportlichen Figur, den langen Beinen in eleganten Schuhen mit hohen Absätzen, dem modisch kurzen Rock, einem passenden Pulli und frecher Kurzhaar-Frisur, nicht unansehnlich. Nach einer kleinen Pause und einem Räuspern wagt sie es, ihn anzusprechen: “Bitte, betrachten Sie es nicht als aufdringlich, mich zu Ihnen zu setzen. Heute Morgen habe ich Sie aber schon einmal, ohne dass Sie es bemerken konnten, in der Eisenbahn gesehen und sitze hier zufällig schon einige Zeit als interessierte Beobachterin in Ihrer Nähe”. Er blickte sie wohlwollend an und antwortete mit sonorer Stimme:  “Ich sitze hier ebenfalls schon länger bei Tee und Kuchen, lasse es mir wohl ergehen und genieße das muntere Treiben um mich herum”, um nach einer kleinen Weile mit einer angedeuteten Verneigung fortzufahren: hier in der Sonne zu sitzen und mit Ihnen zu plaudern, das kann ich mir nur als ein Vergnügen vorstellen. Ich bin aber auch neugierig, von Ihnen zu hören, was sie beobachteten, falls Sie bereit sind, mit mir darüber zu sprechen?”. Sie antwortete: “Als ich mich entschied, bei Ihnen um einen Platz nachzufragen, geschah das nicht ganz absichtslos. Ich bitte Sie, mich aber nicht als indiskret zu verstehen! Mit Ihrer Hilfe wollte ich unter anderem nur klären, ob meine Beobachtungen zutreffen?” Er schaute sie lächelnd an und entgegnete: “Machen Sie sich bitte keine Sorgen und reden Sie frei heraus. Wir können uns ja jederzeit darüber einigen, ob wir unser Gespräch fortsetzen wollen”.

Jetzt fiel ihr ein Stein vom Herzen, denn darauf konnte sie sich einlassen und sagte: “Ich hatte den Eindruck gewonnen, dass Sie sowohl in der Eisenbahn, als auch hier an der Straße, sehr wohlwollend hübsche Damen betrachten, die Ihnen begegnen”. Mit einem Seufzer,”jetzt ist´s heraus!”, lehnte sie sich zurück. Er schmunzelte und entgegnete: “Wenn es weiter nichts ist, hierzu äußere ich mich gern, denn Sie haben mit Ihrer Vermutung ins Schwarze getroffen”. Er fuhr fort: “Mich hat heute, an diesem sonnigen Tag, wie es in einem Schlager heißt, der Frühling wach geküsst. Die ersten Blüten, die wärmende Sonne, das Mädchen mit den blonden Zöpfen im Zug, die vielen schönen Frauen hier und nun Sie, eine angenehme Gesellschafterin, bei Kuchen und Tee am Tisch; was brauche ich noch mehr?” Sie errötete leicht. Der Mann fuhr fort: “Ja, es stimmt, ich bin durch die heutigen Erlebnisse sehr angeregt, denn ich beabsichtige seit einiger Zeit, eine Geschichte zu schreiben, um mich für viele bereichernde Erfahrungen mit Frauen zu bedanken. Sie entgegnete: “Ich freue mich, dass Sie mich nicht missverstanden und ich es trotz anfänglicher Bedenken wagte, mit Ihnen ins Gespräch zu kommen. Gerne würde ich Ihnen bei der Arbeit an Ihrer Geschichte über die Schultern schauen. Vielleicht steht aber unser heutiges Gespräch unter einem guten Stern und hilft Ihnen, sich an Frauen zu erinnern, denen Sie danken möchten. Noch besser, ich könnte in ihrem nächsten Buch nachlesen, was Ihnen hierzu eingefallen ist. Eventuell treffen wir uns wieder einmal zufällig hier?” Sie gab ihm ihre Karte mit der Bemerkung: “Damit wir uns nicht aus den Augen verlieren!” Er entgegnete:  “Es ist sicher hilfreich, wenn ich mir beim Schreiben vorstellen kann, dass eine aufmerksame und dazu recht attraktive Beobachterin, sich für meine Geschichte interessiert. Er gab der Frau auch seine Karte mit der Bemerkung: “Damit sie wissen, mit wem Sie sich heute unterhielten, oder für den Fall, dass wir uns wieder einmal -zufällig-  begegnen.” Sie verabschiedeten sich mit einem fröhlichen auf Wiedersehen. Die Zufriedenheit stand ihnen nach diesem Gespräch ins Gesicht geschrieben.

Der Frühling ging in diesem Jahr, wie über Nacht, in den Sommer über: Bäume, Büsche, Felder und Wiesen legten in wenigen Tagen ihre bunten Kleider an. Überraschend schnell war der Sommer da. Unsere geliebten Gäste, die zahlreichen Vögel, belebten wieder Bäume und Büsche und erfreuten uns mit vielstimmigem Gesang. Vom frühen Morgen bis in den späten Abend ließ das Tuckern der Traktoren erahnen, welche Mühen die wenigen Bauern auf sich nahmen, um ihre Wiesen und Felder übers Jahr zu bestellen. Jung und Alt hielt es an schönen Sommertagen nicht mehr in den Wohnungen. Man konnte ihnen bei der Gartenarbeit, auf dem Feld, bei Wanderungen, im Schwimmbad, beim Sport oder hoch zu Pferde begegnen. Stolze Eltern präsentierten ihren Nachwuchs. Kinder erprobten beim fröhlichen Spiel, zu weilen im Streit, ihre Stimmen und Kräfte. Der Duft von Gegrilltem, Lachen und Singen bis  in die Nacht, ließ erkennen, dass in der Nähe gefeiert wurde. Im Wechsel von Sonnenschein, Regen und Pflege, gediehen Pflanzen und Früchte zur Ernte hin.

Immer wieder erinnerte sie sich in den letzten Wochen an den Mann, der ihr in der Eisenbahn und im Straßencafé begegnete und sie im Gespräch sehr beeindruckte. Zuweilen sah sie ihn in Gedanken, sportlich gekleidet, mit wachem Blick und leicht geöffneten Lippen vor sich, als wolle er sie zu einem Gespräch einladen. Je ungenierter sie sich diesen von sympathischen Gefühlen begleiteten inneren Bildern überließ, umso weniger musste sie den Wunsch, ihn wieder zu sehen, abwehren. Im Gegenteil: Der Gedanke, dem selbstbewussten Mann wieder zu begegnen, und mit ihm reden zu können, schien verlockend, und war mit einer heimlichen Vorfreude, ihm wieder zu begegnen, verbunden. Hatte er ihr doch beim Abschied versichert, zur gegebenen Zeit gern mit ihr über den Stand seines neuen Buches sprechen zu wollen. Seine Visitenkarte hatte sie gut aufbewahrt. Es wäre daher ohne Schwierigkeiten möglich, ein Treffen mit ihm zu vereinbaren. Als sie darüber nachdachte, fühlte sie sich ähnlich unsicher und leicht gehemmt, wie damals, als sie ihn im Straßencafé um einen Platz an seinem Tisch bat. Nun war sie sich aber bewusst, dass sie nicht nur das neue Buch, sondern auch dessen Autor interessierte. Ein schwaches Zittern in ihr verstärkte sich, als sie sich entschied, vorerst eine Begegnung zu vermeiden und gleichzeitig hoffte, er möge sich auch an sie erinnern, und zu einem Gespräch einladen.

Der Sommer hatte uns in diesem Jahr mit vielen Gaben reich beschenkt. In den letzten Tagen war es aber merklich kühler geworden. Der alte Birnbaum im Garten gab zu erkennen, dass der Herbst einkehren wollte. Seine gelb-orangenen Blätter schaukelten im leichten Wind hin und her. Lange konnten sie sich nicht mehr halten. Die Ernte war eingebracht, die ergiebige Weinlese ließ einen guten Jahrgang erwarten, und die Winzer freuten sich über ihre gut besuchten Besenwirtschaften. Viele Vögel hatten uns bereits verlassen, um der kälteren Jahreszeit zu entgehen. Die Tage wurden kürzer und die Dämmerung setzet früher ein, als ob der Herbst Natur und Menschen auf ruhigere Zeiten einstellen wollte.

Umgeben von Regalen mit einem großen Teil seiner geliebten Bücher, sitzt Eric an seinem ausladenden Schreibtisch. Die gesamte Einrichtung des Arbeitszimmers, in Kirschbaum gehalten, regt zur Besinnung an: Auf dem Tisch lachen dem Mann in hübschen Bilderrahmen, die Gesichter seiner Frau, Kinder, Enkel und Freunde entgegen. Zur Rechten erinnert ihn die Tischuhr daran, seine kostbare Zeit zu nutzen. Daneben steht ein Globus, als Ausdruck weltweiter Beziehungen der Menschen. Durch das breite Fenster im Obergeschoß, blickt er weit über großflächige Wiesen, und das fette Braun umgebrochener Äcker, bis hin zu einem in herbstlich bunten Farben stehenden Waldstück am Horizont. In der sich rasch ausbreitenden Dämmerung sind die Umrisse der Fichten im Garten, die seit dem Frühjahr ein gutes Stück gewachsen sind, gerade noch zu erkennen. Mit zunehmender Dunkelheit treten Erinnerungen und Wünsche deutlicher hervor:

Wie mag es der jungen Frau gehen, mit der er im Frühjahr in einem Straßencafé ein längeres Gespräch führte? Sie hatte damals lebhaftes Interesse an seiner Absicht bekundet, in einer Erzählung  über Frauen zu schreiben, die ihn beeindruckten und beschenkten. Gerade als er nach einigem Überlegen, sich selbstkritisch eingestehen konnte, dass er immer noch an seiner Geschichte arbeite, versteckten sich die hohen Fichten in völliger Dunkelheit, als wollten sie es Eric ersparen, sich mit deren erheblichem Wachstum in diesem Jahr verglichen und schämen zu müssen.

In den letzten Monaten dachte er öfters an die hübsche Dame.  Auch jetzt sah er sie mit femininer Ausstrahlung, attraktiv gekleidet und einladend lächelnd, deutlich vor sich. Im Bruchteil von Sekunden hatte er ihre elegante Erscheinung so vor Augen, dass er sie hätte modellieren können. Er erinnerte sich an ihre, im leichten Wind spielenden, kurzen Haare, und Ihren strahlend, wachen Blick, als wäre die Zeit angehalten worden, und sie säßen sich gerade noch gegenüber. Mit offenen Augen durchträumte Eric noch einmal den anregenden Frühlingstag, das Gespräch über sein neues Buch, ihren Charme und ihre Nähe, wie wenn sie ihm, wie versprochen, gerade eben über die Schultern schaute, um zu erfahren, bei welchen Frauen er sich in seiner Geschichte bedanken würde.

Die entbehrungsreichen Jahre nach dem 2. Weltkrieg waren überstanden. Nach der Währungsreform 1948 füllten sich die Regale in den Geschäften wieder. Eric´s, in der Hoffnung auf bessere Zeiten lang gehegter Wunsch, einmal eine Butterkremtorte ganz allein zu verzehren, bewegte ihn immer weniger und blieb bis zur Stunde unerfüllt. Auf wunderbare Weise gab es ja wieder ein reichhaltiges Warenangebot, von dem Groß und Klein in den Hungerjahren nur träumen konnten. Die Menschen waren bereit, sich nach Kräften am Wiederaufbau zu beteiligen. Ihr Einsatz, die politische Bindung der Bundesrepublik an die Westmächte und die finanzielle Unterstützung aus dem Marshall-Plan, trugen dazu bei, dass sich unsere Wirtschaft erholte:

Überall im Land war man damit beschäftigt, Kriegsschäden zu beseitigen, Verkehrswege, Städte, Betriebe und Wohnungen zu bauen, Arbeitsplätze zu sichern und die vielen Flüchtlinge zu integrieren. Ein anhaltender Aufschwung, das „Wirtschaftswunder“, führte zu wachsendem Wohlstand. Die politischen Folgen des verlorenen Krieges, die Klärung der Schuldfrage, die Versöhnung ehemaliger Gegner, wirkten jedoch bis in unsere Zeit nach. Wer hätte aber erwarten können, dass die Einheit unseres Landes hergestellt und Deutschland in 60 Jahren wieder vertrauensvoll mit anderen Völkern zusammen leben und arbeiten würde?

Man konnte den Wandel nach der Währungsreform nicht nur am Wiederaufbau, sondern auch an einer veränderten Nachfrage der Menschen nach Konsum feststellen: Ein starkes Bedürfnis zu reisen, an sportlichen und kulturellen Veranstaltungen teilzunehmen, Konzerte und Theater zu besuchen, Feste zu feiern und zu tanzen, bewegte Jung und Alt. Es schien anfänglich, als seien alle wie getrieben, in kurzer Zeit nach zu holen, was sie in den Kriegs- und Nachkriegsjahren versäumten.

 R i a              

Eric arbeitete als junger Kaufmann in einem größeren Unternehmen. Er liebte seine abwechslungsreichen Aufgaben im Einkauf, der Kalkulation und im Rechnungswesen. Wie den leitenden Ingenieuren, war ihm das Ringen um die Aufträge, die politischen und wirtschaftlichen Kontexte, und die Arbeitsabläufe in der Firma bestens vertraut. Er galt als leistungsbereit, zuverlässig und kollegial. Eric nutzte aber auch jede Gelegenheit, die sich bot, um sich in der Freizeit an klassischer Musik, Jazz oder Folklore zu erfreuen. Als Schlagzeuger in verschiedenen Band´s, verdiente er sich ein ordentliches Zubrot. Seine gleichaltrigen Freunde erlebten ihn als fröhlich und unter nehmungslustig. Bei den verschiedenen Festen, Sport- und Tanzveranstaltungen, fehlte er selten. Fest eingebettet in seinen Freundeskreis, zogen ihn hübsche Frauen magisch an. Er liebte aber seine „goldene Freiheit“ sehr, und trennte sich manchmal, ohne Skrupel, schon nach kurzer Zeit von seinen Freundinnen. In stillen Stunden träumte er jedoch manchmal davon, dass es ihm gelingen könnte, sich für eine Dame seines Herzens auf Dauer zu entscheiden. Um im <Ernstfall> etwas zu einem gemeinsamen Haushalt beitragen zu können, begann er, sein geräumiges Zimmer mit modernen Möbeln auszustatten.

Obwohl seine Mutter bemerkte, dass ihr Sohn zunehmend nestflüchtig wurde, hielt sie sich mit ernstlichen Einwänden zurück. Als ausgezeichnete Tänzerin ließ sie es sich aber nicht nehmen, ihm das Tanzen beizubringen. Eric konnte es danach kaum mehr erwarten, seine neuen Fähigkeiten auf dem Parkett zu erproben. Gegenüber dem elterlichen Wohnhaus befand sich ein Lokal, <der Oberrheinische Hof>, mit mehreren Räumen und einem großen Tanzsaal. Jeden Sonntag beobachtete er durch ein der Straße zu gelegenes Fenster, gespannt das Geschehen: Auf der Bühne spielten Musiker eines beliebten Tanzorchesters in weißen Smokings. Im rechteckigen, mit einem Parkettboden ausgelegten Raum, waren an den Wänden gedeckte Tische und Stühle aufgestellt. Dort saßen die Gäste in festlicher Garderobe.

Endlich war der Tag gekommen, zusammen mit seinen Freunden an einem dieser Tische Platz zu nehmen. Die jungen Herren gaben sich große Mühe, recht gelassen zu wirken. Lediglich die große Zahl der Zigaretten-Kippen in den Aschenbechern, verriet ihre unterdrückte Nervosität. Die Unterhaltung war mühselig, denn es galt gleichzeitig zu entscheiden, welche der Damen zum Tanz aufgefordert werden sollten. Hierzu gab es eindeutige Kriterien: Die Partnerin sollte gut tanzen können, in Größe, Figur und Aussehen zum Tänzer passen und schick gekleidet sein. Auch die Freunde hatten zu dieser Veranstaltung alles aufgeboten, was ihre Kleiderschränke hergaben, um den Damen zu imponieren. Damals legte Eric besonderen Wert auf gediegene Kleidung und trug nur Maßanzüge. Aus gegebenem Anlass wählte er einen Zweireiher in hellem Grau mit Streifenmuster aus, der ihm gut zu Gesicht stand.

Es galt eine bestimmte Abfolge zu beachten: Nur wer rasch genug war, wenn die Musik einsetzte, hatte eine Chance, die <Erwählte> um den nächsten Tanz zu bitten. Zu den schnellen Tänzen, Paso-Doble, Foxtrott oder Walzer, eigneten sich schlanke, bewegliche Damen. Um eng umschlungen einen Slowfox, Tango oder Englisch-Walze zu tanzen, gab es gute Gründe, Tänzerinnen zu wählen, deren weibliche Formen ausgeprägter waren. Die männliche Konkurrenz ließ sich nur ausschalten, wenn es gelang, sich durch Absprache mit der Partnerin während des Tanzes, die nächste Runde zu sichern. Mutters privater Tanzunterricht und ein natürliches Rhythmus-Gefühl als Schlagzeuger verfehlten bei Eric ihre Wirkung nicht. Sich nach der Musik zu bewegen, bei einem Walzer links und rechts herum über das Parkett zu schweben oder im Gleichklang mit der Partnerin einen Slowfox oder Tango zu tanzen, und deren Nähe zu spüren, das löste den Wunsch aus, öfters eine Tanzveranstaltung zu besuchen. Auch die Forderung des Wirtes, in der kalten Jahreszeit nach dem Krieg, zusätzlich zum Eintrittsgeld, Heizmaterial mitzubringen, konnte die Tanzbegeisterung nicht stoppen.

Eines Tages war sie da! Eric konnte es kaum erwarten, bis die Musik einsetzte. Er stürmte über das Parkett. Sie gefiel ihm auch noch, als er vor ihr stand und um den nächsten Tanz bat. Mit einem anziehenden Lächeln war sie einverstanden. Vom ersten Schritt an schien es ihm, als hätten sie gemeinsam schon lange getanzt. Sie hatte ihre blonden Haare zu einer Hochfrisur gesteckt, trug ein geblümtes Kleid und ließ sich bei verschiedenen improvisierten Tanzfiguren sehr leicht führen. Viel zu schnell war der Tanz vorbei, und Eric brachte sie mit Dank und einer leichten Verbeugung, an ihren Platz zurück.

Rolf und Berthold, seine Freunde, wollten unbedingt wissen, wie sich eine so sympathische Frau anfühlt. Eric stand noch voll unter dem Eindruck des Erlebnisses, hatte nur im Kopf, sich den nächsten Tanz zu sichern und quetschte heraus: “Es schmeckt nach mehr!”  Die Musik spielte einen Slowfox. Wie von der Tarantel gestochen, erhob er sich und ging so rasch als möglich, über das Parkett zu ihr. Er hatte die Frage der Freunde noch im Ohr: Wie sie sich anfühle, und war nur zu bereit, bei dem langsamen Tanz auszuprobieren, wie viel Nähe sie zulassen würde. Noch nie zuvor hatte Eric so oft mit einer Partnerin getanzt. Es zog ihn, wie an unsichtbaren Fäden immer wieder zu ihr. Obwohl es ihm sonst nicht schwer fiel sich zu unterhalten, fehlten ihm in dieser Situation die Worte, um auszudrücken, wie sehr es ihn berührte, von ihr erwartet zu werden, und ihre Freude und Nähe zu spüren, wenn sie sich an ihn schmiegte. Ja sogar der nüchterne Tanzsaal schien in diesem Moment wie verzaubert. Es war ihm als spiele das Orchester nur für sie beide, Musik, die zu Herzen ging, und sich wie von selbst in tänzerische Bewegung umsetzte. Er war sich sicher, dass seine Freunde ihm dieses Erlebnis gönnten, obwohl er es an diesem Tag wie einen geheimen Schatz hütete. Umso wichtiger war ihm, sich zu vergewissern, dass sie gern zu den folgenden Tanzveranstaltungen wieder kommen werde und sich auf ein Wiedersehen freue. Eric hatte gegen Ende der Veranstaltung seine Sprache wieder gefunden, stellte sich der Dame vor und erfuhr beim Abschied, dass sie am nächsten Sonntag sicher wieder komme und Ria heiße.

In den nachfolgenden Wochen traf er sie immer wieder beim Tanz. Wie Perle an Perle reihten sich die erlebnisreichen Wochenenden aneinander. Eric konnte die Sonntage kaum erwarten, um neben Ria zu sitzen und sie wieder beim Tanz in seinen Armen zu spüren. Er hatte schon öfters hübsche Mädchen kennen gelernt, dabei aber immer auf seine <goldene Freiheit> geachtet. Bei Ria war es irgendwie anders. Seine Freunde bemerkten die Veränderung und kommentierten: “Eric ist total verliebt”. Ihre wohlwollenden Ratschläge, wie er sich in dieser neuen Situation verhalten sollte, blieben wirkungslos. Während der Arbeit, in den Pausen, bei den abendlichen Kontakten mit den Freunden, immer wieder dachte er an Ria und freute sich auf das nächste Wiedersehen mit ihr. Es fiel ihm zunehmend schwerer, eine Woche zu warten, bis er sie wieder sehen konnte. Selbst vor dem Einschlafen, in seinen Träumen und beim Erwachen, stand sie ihm beständig vor Augen. Gelegentlich spielte er sogar mit der Vorstellung, dass Ria eine Frau wäre, die er heiraten könnte. Als er seiner Mutter von diesen Wünschen erzählte, stellte sie ihm die Frage, ob er auch die finanziellen Folgen dieses Vorhabens bedacht hätte? Diese Einwände führten bei ihm aber keineswegs zu einem selbstkritischen Nachdenken. Sie bewirkten im Gegenteil ein umso stärkeres Verlangen, seine Tanzpartnerin möglichst bald wieder zu sehen.

Eric machte sich nun auch unter der Woche mit dem Fahrrad auf einen längeren Weg, über den Dinkelberg nach Fahrnau, um mit Ria zusammen zu sein. Rolf und Berthold, mit denen er sich nicht mehr jeden Abend treffen konnte, versuchten ihn zu verstehen, obwohl er wenig über sich und seine Beziehung zu Ria erzählte. Nach einigen Wochen begegnete Eric seinen Freunden wieder. Er wirkte sehr niedergeschlagen, traurig und ließ den Kopf hängen. Rolf und Berthold bemerkten die Veränderung sofort, hielten sich aber zunächst schweren Herzens zurück, ihn darauf anzusprechen. Nach einem bedrückenden Schweigen, begann Rolf zu reden: “So verstimmt und zurückgezogen, habe ich Dich, Eric, lange nicht erlebt. Es fällt mir schwer, Dir das zu sagen und Dir zu helfen, weil ich befürchte, Du könntest mich zurückweisen.” Berthold nickte zustimmend mit dem Kopf. Eric antwortete: “Ich weiß, es waren aufregende Wochen, in denen ich euch nicht viel erzählt habe. Ich wusste aber auch gar nicht so recht, wie mir geschah. Jetzt habe ich begriffen: Ich bin zum ersten Mal so richtig verliebt. Als ich gestern nach Fahrnau fuhr, um Ria zu sehen, haben wir lange mit einander geredet. Ich erzählte ihr, dass ich sie liebe und mir vorstellen könne, sie zu heiraten. Ich hätte auch schon einige Möbel gekauft, die wir zur Einrichtung einer Wohnung verwenden könnten”. Ria habe ihm geantwortet: “Sie habe auch lange über sich und ihre Beziehung zu Eric nachgedacht. Im Unterschied zu ihm, habe sie aber noch kein Interesse zu heiraten. Sie halte es daher für besser, wenn sie sich trennen würden”. Es war Eric in diesem Moment so, als würde eine Welt für ihn zusammenbrechen. Eine Mischung aus Enttäuschung, Kränkung, Wut und Trauer erfüllte ihn. Unfähig, hierüber zu reden, nahm er Ria noch einmal in den Arm. Er spürte ihren leicht vibrierenden Körper, ohne sie zu küssen. Dann fand er wieder Worte und gab zu verstehen wie viel sie ihm bedeute, wie dankbar er für die schöne Zeit sei, die er mit ihr erleben durfte, verabschiedete sich mit einem letzten Händedruck, und fuhr traurig nach Hause.

Die Freunde waren sprachlos, schauten Eric mit großen Augen an und umarmten ihn. Berthold sagte nach einer längeren Pause: “Eine so überraschende Trennung ist sicher sehr schmerzhaft. Wir waren ja zusammen, als Du Ria beim Tanzen kennen lerntest, haben uns mit Dir gefreut, und Dir diese hübsche Frau gegönnt. Als Du weniger mit uns zusammen warst und nicht so viel erzähltest, haben wir vermutet, Du könntest so richtig verliebt sein und ernstliche Absichten haben”. Rolf ergänzte: “Wir kennen Dich mit Sicherheit schon länger als <diese Ria<. Auf uns kannst Du zählen – und Berthold nickte zustimmend: “Wann immer Du uns brauchst, kannst Du mit unserer Hilfe rechnen”. Eric bedankte sich herzlich bei seinen Freunden und freute sich wieder auf die gemeinsamen Abende nach Dienstschluss.

Es dauerte sehr lange bis Eric die Trennung von Ria überwunden hatte. Immer wieder eilten seine Gedanken zu ihr. Er dachte an die schönen Stunden beim Tanz, wie sie lachend und scherzend immer wieder eine freie Stelle zwischen anderen Tanzpaaren fanden, um sich nach eigenen Figuren zu bewegen oder, eng umschlungen, den Melodien nach zu träumen. Eric erinnerte sich auch an den Austausch von Zärtlichkeiten und die Gespräche bei den Besuchen in ihrer Wohnung. So leicht war das nicht, sich von Ria zu trennen, auch wenn seine Freunde ihn mitfühlend zu trösten versuchten. Eric dachte auch oft darüber nach, ob es richtig war, sich nach der Trennung sofort zu verabschieden, ob er zu aufdringlich war, zu früh von einer festen Beziehung redete, und darauf verzichtete, Ria umzustimmen. Wenn er an die schönen Stunden und die Abschiedsszene dachte, reagierte er enttäuscht und traurig, wie damals bei der Heimfahrt nach der Trennung. Immer mehr spürte er aber auch eine innere Mauer aus Wut, Groll und bitterem Stolz, die es ihm nicht mehr erlaubte, mit ihr zu reden.

Eric war für eine längere Zeit die Lust am Tanzen vergangen und er wandte sich wieder mehr der Musik zu. Hinter dem Schlagzeug konnte er viele schöne Frauen beobachten und gelegentlich auch deren Zuneigung erfahren. Unverbindliche Flirts und der Wunsch, seine <goldene Freiheit> zu bewahren, verloren für ihn aber zunehmend an Interesse. Er fürchtete sich jedoch nun  vor schmerzlichen Trennungen. Wenn er eine schöne Frau kennen lernte, bewegte ihn aber immer häufiger die Frage, ob er sie auch gegebenenfalls heiraten könnte.

L u

Eines Tages begegnete er <Lu>. Sie war mit einigen Freundinnen zum Tanz in den Oberrheinischen Hof gekommen. Eric war vom ersten Augenblick an von ihrer Schönheit beeindruckt. Sie verstand es, mit geringem Aufwand ihre erotische Ausstrahlung zu unterstreichen, sich ansprechend zu kleiden, arbeitete gelegentlich als Modell und wirkte in jeder Hinsicht attraktiv. Ihre dunklen Haare verwandelten sich unter Ihren Händen zu verführerischer Frisuren. Ihr dezentes mac up, betonte die lebendigen, braunen Augen und die einladenden Lippen. Lu war mit ihrem charmant-femininen Gesicht und ihrer Figur einfach nicht zu übersehen. Sie konnte es durchaus mit den jungen Baslerinnen aufnehmen, die immer nach der neuesten Mode gekleidet, mit einer Kleinigkeit von Schuh auf hohen Absätzen in der Stadt herum stolzierten.

Eric ließ Lu nicht aus den Augen, fand sie entzückend und beobachtete, wer sie zum Tanz aufforderte. Er hatte den Eindruck, als ob sie nicht mit allen tanzte, die sie dazu aufforderten. Einen <Korb> zu bekommen, das heißt von einer Dame bei der Aufforderung zum Tanz abgelehnt zu werden, galt unter jungen Männern als sehr unehrenhaft. Eine solche Blamage musste unbedingt vermieden werden. Die Musik setzte ein und spielte einen feurigen Tango. Jetzt gab es für Eric kein Halten mehr. Etwas schneller, als üblich, steuerte er über das Parkett und bat um diesen Tanz. Lu nickte mit dem Kopf, erhob sich und lag auch schon in seinen Armen. Argentinische Tangos haben es in sich. Lu war eine sehr gute Tänzerin, leicht zu führen, und in der Lage, sich auch auf eine Improvisation der Tanzschritte einzulassen. Es kam kein Gespräch auf, zu schön war dieser leidenschaftliche Tanz. Eric führte Lu wieder zurück an ihren Platz und bedankte sich. Sie lächelte und bemerkte: “Schon lange habe sie nicht mehr erlebt, beim Tango wie eins mit der Musik zu sein”. Eric nutzte dieses Kompliment und erbat sich den folgenden Tanz. Sie gewährte ihm die Bitte. Noch einige Male konnte er ihren wohl geformten Körper spüren, der weich und elastisch den Tanzfiguren folgte. Gegen Ende der Veranstaltung vereinbarten sie, sich am nächsten Wochenende wieder zu treffen.

Es war noch früh am Tage, als Eric Lu am Bahnhof abholte. Er schlug vor, die Zeit bis zum Beginn der Tanzveranstaltung zu einem Spaziergang in der Stadt zu nutzen. Sie willigte ein. Es wurde danach wieder ein schöner Abend, zumal Lu ihn bat, an ihrem Tisch Platz zu nehmen. Eric hatte den Eindruck, Lu könnte ihn als Tänzer bevorzugen, denn einige andere Bewerber gingen leer aus. Er war nicht überrascht zu erfahren, dass Lu in Grenzach wohne. Dort kamen ja die schönsten Mädchen her. Die nächsten Wochenenden trafen sie sich wieder. Bei solcher Gelegenheit mit ihr durch die Stadt zu promenieren und die anerkennenden Blicke anderer Männer zu bemerken, erfüllte Eric stets mit einem leichten Besitzerstolz. Dies umso mehr, wenn sie an schönen Sommertagen beim Baden immer modische Bikinis oder Badekleidung trug, die ihre Figur voll zur Geltung brachten.

Nur im Schutze einer längeren, vertrauten Beziehung, wagte es Lu, über ihre belastenden familiären Erfahrungen zu sprechen. Wie sehr musste sie gedemütigt und verletzt worden sein, dass sie sich wie ein ängstliches Kind in sich zurückzog, um sich vor bedrohlicher Nähe zu schützen. Unfähig, erotische und intime Kontakte mit Männern zuzulassen, traute sie sich keine verbindliche Partnerschaft oder eine Ehe mit Kindern zu. Eric war von dieser Mitteilung schmerzlich betroffen, hatte er doch Lu, diese auffallend schöne Frau, in der zurückliegenden Zeit sehr lieb gewonnen. Zunächst hoffte er noch, dass sich die Einstellung von Lu ändern könnte, dann aber musste er einsehen, dass sie unter den gegebenen Umständen, eine verbindliche Beziehung für sich ausschließen musste. Eric empfand ein tiefes Mitleid mit ihr und bemerkte auch einen Wandel in seiner Einstellung zu Frauen:

Bereits nach der Trennung von seiner früheren Freundin Ria, nahm sein Interesse an flüchtigen Beziehungen zu Frauen ab. Gleichzeitig verstärkte sich die Hoffnung, doch noch der „Dame seines Herzens“ zu begegnen. Eine Ehe zu führen und Kinder zu haben, sah er zusehends als wünschenswert und realistisch an. Obwohl es keine Zerwürfnisse zwischen Lu und Eric gab, entschlossen sie sich zu trennen. Eric war sich sicher, dass er die schönen Stunden und Lu nicht vergessen würde und sagte zu ihr: Geh Du Deinen Weg im Segen, ich will es auch versuchen. Sie umarmten sich ein letztes Mal.

Es vergingen Jahre. Obwohl der Bekanntenkreis sich erweiterte, blieb Erics Beziehung zu seinen Freunden Rolf und Berthold stabil. Bei den regelmäßigen Kontakten mit ihnen bildeten Erfahrungen mit Damen ein unerschöpfliches Gesprächsthema. Gelegentlich unternahm Eric aber auch alleine Ausfahrten nach Basel, zum Besuch von Museen, Konzerten, Tanzveranstaltungen, im Winter nach Todtnauberg, zum Feldberg oder in die Schweiz zum Skilaufen. Die Sehnsucht nach einer festen Partnerin blieb bei all dem sein stiller Begleiter.

Reisebekanntschaft

Es ist Winter, nach Neujahr. Ein kleiner Ölofen spendet behagliche Wärme. Aus dem neuen Radio ertönt leise Musik. Eric sitzt an seinem Schreibtisch in der Nähe des Fensters. Er liest ein Buch, blickt ab und zu hinüber zum Bahnhof, dann mit zufriedener Miene über sein modern eingerichtetes Zimmer. Rechtzeitig vor Weihnachten wurden die neuen Möbel geliefert und nach seinen Wünschen aufgestellt. Ein Blick auf die Uhr; es könnte noch reichen mit der Eisenbahn bequem nach Säckingen zu kommen. Dort wäre es möglich, wieder einmal zu tanzen. Allein diese Absicht versetzte ihn schon in eine erwartungsvolle Stimmung. Kurz entschlossen zog er seinen Lieblingsanzug, den grauen mit dezentem Nadelstreifen an. Dazu ein passendes Hemd mit hübscher Krawatte sowie Schuhe mit gut gleitenden Ledersohlen. Er streifte einen Wintermantel über, wählte Hut und Handschuhe, und eilte nach einem Blick in den Spiegel zum Bahnhof. Dort löste er eine Fahrkarte und bestieg nach einer kurzen Wartezeit den Zug.

Sein Blick erfasste in dem voll besetzten Abteil eine junge, hübsche Dame, die kurz über den Rand ihrer Illustrierten blickte, als er sich erkundigte, ob der Platz gegenüber noch frei sei. Mit einem charmanten Lächeln und zustimmender Handbewegung wies sie auf den Sitzplatz und sagte: ” Bitte ! ” Die Fahrt dauerte nicht lange, reichte aber aus, um sich mit der Dame gegenüber zu beschäftigen:   Sie trug ein dunkelblaues Kostüm, mit einem beigen Rollkragen-Pulli. Ab und zu legte sie die Illustrierte weg, drehte den Kopf mit den lockigen blonden Haaren zur Seite, strich sich ihre Frisur zurecht, betrachtete für eine kleine Weile Eric, um dann entspannt aus dem Abteilfenster zu schauen. Er hatte den Eindruck, ihr nicht unsympathisch zu sein, und verfolgte indessen interessiert die Linien ihres Gesichtes im Profil, denen das einfallende Sonnenlicht besonderen Glanz verlieh. Im gleichen Augenblick drehte sie ihren Kopf zurück. Ihre Blicke begegneten sich. Sie lächelten sich ein wenig zu, als ihnen ohne Worte klar wurde, dass sie sich gegenseitig diskret beobachtet hatten. Eric bemerkte, dass ihn die Dame gegenüber mehr interessierte, als die übrigen Fahrgäste. Was sie wohl vor hat? Was könnte ihr Reiseziel sein? Ob sie sich auf ein Gespräch einlassen würde? Es käme auf einen Versuch an:

Kurz entschlossen wandte er sich an sie und sagte: “Sie haben Ihre Illustrierte zur Seite gelegt. Könnte das bedeuten, dass Sie ungestört sein wollen oder dass Sie auch zu einem Gespräch bereit wären?” Die Dame entgegnete: ” Es ist schon seltsam; ähnliche Gedanken hatte ich auch und finde es gut, dass Sie mich ansprechen, denn ich war mir nicht sicher, ob Sie das wünschen. Ein Gespräch wäre mir angenehm, denn die Fahrt bis Säckingen dauert noch mindestens 25 Minuten. Ich möchte meine Mutter besuchen, die im Krankenhaus operiert wurde.” Eric lächelte, betrachtete die junge Frau mit unverhülltem Interesse und sagte:”Mit acht Jahren war ich auch einmal im Krankenhaus wegen des Verdachtes auf Blinddarmentzündung. Als mich der Arzt untersuchte, waren die Schmerzen aber wie weg geblasen. Ein anderes Mal begleitete ich meine Mutter, um eine Patientin, die im Krankenhaus lag, zu besuchen. Während sie sich mit der Patientin unterhielt, machte ich mich hinter ihrem Rücken über ein offenes Glas Essiggurken her. Meine Mutter wies mich zurecht, aber es war zu spät, denn mir war schon elend und schlecht.” Jahrelang hatte ich danach eine unüberwindliche Abneigung gegen Essiggurken. Heute mache ich allerdings um das Krankenhaus einen großen Bogen und hoffe, in einem bekannten Tanzcafe Damen zu treffen, die auch gerne tanzen. Sie entgegnete mit einem verschmitzten Lächeln: “Ihre Warnung ist bei mir angekommen; Essiggurken werde ich nicht zu mir nehmen. Bei aller Liebe zu meiner kranken Mutter könnte ich mir jedoch gut vorstellen, auch wieder einmal zu tanzen. Ich tanze nämlich leidenschaftlich gern.” Eric gab zur Antwort: “Es leuchtet mir ein, dass sie nicht davon absehen können, ihre Mutter nach der Operation zu besuchen. Sie werden sicher schon von ihr erwartet.” Der Zug hielt.

Sie waren in Säckingen. “Schade”, sagte Eric: “Ich hätte mich gern weiter mit Ihnen unterhalten. Wenn ich nicht den Zweck Ihres Besuches im Krankenhaus erfahren hätte, wären Sie sicher meiner Frage begegnet, ob Sie mir bei der Tanzveranstaltung Gesellschaft leisten wollten?”  Sie entgegnete: “Und Sie glauben, dass ich nach 25 Minuten angenehmer Unterhaltung mit Ihnen, Ihr Angebot angenommen hätte?  – und dabei sah ihn die Dame mit blitzenden Augen an.” Er gab zur Antwort: “Mindestens versucht hätte ich es sicher.  Aber heute war es Ihnen ja gar nicht möglich, Ihre kranke Mutter zu enttäuschen. Vielleicht begegnen wir uns ein anderes Mal unter günstigeren Umständen. Ich bedanke mich bei Ihnen für das Gespräch und hoffe, trotz einer leichten Enttäuschung, im Tanzcafé auch wieder angenehme Gesellschaft zu finden.”  Sie verabschiedeten sich mit einem verbindlichen <auf Wiedersehen>.

A l i c e

Eric schätzt es, wenn die vielen Touristen abgezogen waren, wie die <Einheimischen<, durch die engen Gassen und Strassen von Säckingen zu schlendern. Das Fridolin-Münster im Zentrum der Stadt, die alte Holzbrücke über den Rhein zur Schweiz hinüber, und die Geschichte des Trompeters von Säckingen, waren ihm vertraut. Heute bewegte ihn aber ein anderes Interesse. Wie von selbst und noch beeindruckt von dem Gespräch mit der Dame im Zug, fanden seine Füße Schritt für Schritt den Weg in das bekannte Tanzcafé.

Durch eine Drehtüre betrat er den Raum, der einladend gestaltet war: Zur Rechten standen in lockerer Anordnung, in freundlichen Farben gedeckte, mit bunten Blumen und Kerzen dekorierte Tische. Auf bequemen Sesseln saßen ältere Damen und Herren und einige Familien mit Kindern. Sie ließen sich, das reiche Sortiment an Kuchen und Torten bei Tee und Kaffee wohl bekommen. In der Raummitte stand eine geräumige Theke; hinter Glas präsentierte sich appetitlich ein reichhaltiges Angebot an Backwaren. Hinter der Theke nahmen hübsche Bedienungen in dunkler Kleidung mit weißen Schürzen die Aufträge entgegen. Andere servierten den Gästen Getränke und Kuchen. All dies geschah in ruhiger und freundlicher Geschäftigkeit.

Dem Eingang gegenüber stand ein Flügel: Zusammen mit dem Pianisten, einem Violinspieler und einem Bassisten, hatte ein Trio in dunkler Kleidung Platz genommen. Links neben dem Eingang eröffnete sich eine tiefer liegende, größere, halbrunde Tanzfläche. Rings um diese waren runde Tische mit Blumen, Kerzen und Tischleuchten, vor einer mit Vorhängen geschützten, großflächigen Fensterfront, aufgestellt. Die ganze Dekoration, gab dem Raum eine intime, freundliche Note.

Eric entschied sich rasch für einen freien Tisch im Bereich der Tanzfläche und gab seine Bestellung auf. Nach und nach füllte sich das Lokal zu beiden Seiten. Ein Paar suchte, und fand an Eric´s Tisch Platz. Die Musik setzte ein. Es entging Eric nicht, dass das Trio offensichtlich bemüht war, sich in Lautstärke und Wahl der Musikstücke auf ihr Publikum einzustellen. Insofern war es möglich, die Atmosphäre im Raum, die verhaltenen Stimmen, die tanzenden Paare, und die angenehme Musik, auch ohne selbst zu tanzen, zu genießen.

In der Rolle des Beobachters war Eric fast mit seinem Schicksal zufrieden, wenn da nicht die vielen hübschen Damen gewesen wären. Vor deren Schönheit, vermochte er die Augen nicht lange zu verschließen; dies umso mehr, als eine gut aussehende Dame ihn, wenn sie vorbei tanzte, immer keck anlächelte. Sollte das eine Aufforderung sein, sie zum Tanz zu bitten? Sein Interesse war geweckt. Nach einigen Versuchen, herauszufinden, wo sie Platz genommen hatte, entdeckte er ihren Tisch, schräg gegenüber, in der Nähe der Musiker. Die Musik lockte mit dem bekannten Schlager, »wenn der weiße Flieder wieder blüht«, zum Tanz. Es gelang Eric nicht, sein Interesse zu verbergen:

Mit rascheren Schritten, als beabsichtigt, überquerte er die Tanzfläche und bat die Dame, die lächelnd zustimmte, um den nächsten Tanz. Sie lag anschmiegsam in seinen Armen und ließ sich überraschend leicht führen. Mit einem Blick, der Lebensfreude und Lebenserfahrung erahnen ließ, vermochte Sie zu locken, und gleichzeitig Respekt einzufordern. Ihr offenes, einladendes Lächeln, das den Mund umspielte, und der Schalk, der kleine Grübchen in ihren Augenwinkeln frei gab, blieb Eric nicht verborgen. Wer mochte diese Frau sein? Wenn er ihr beim Tanz tief in die Augen schaute und sie dem Blick stand hielt, eröffnete sich eine beruhigende Chance, einander vertrauen zu können. Welche Geheimnisse sich auch immer verbergen mochten, lügen konnten diese blauen Augen nicht.

Ihre Garderobe verriet einen sicheren Geschmack. Sie trug einen dunklen Halbrock, eine sportliche, weiße Bluse mit passendem Goldschmuck im Ausschnitt, und halbhohe Schuhe. Eric war überrascht, wie wenige Worte und Hinweise genügten, um einander sympathisch zu sein. Kleine Gesten von Tisch zu Tisch reichten aus, um den nächsten Tanz zu vereinbaren; und es gab viele Tänze, bis die Musiker ihre Instrumente einpackten. Beim letzten Tanz: <zum Abschied reich ich Dir die Hände…> bot Eric seiner Partnerin an, sie nach Hause zu geleiten. Sie nahm das Angebot dankend an. Der Weg führt durch das nacht-dunkle Säckingen am Fridolin Münster vorbei zu ihrer Wohnung. Er bedankte sich für den schönen Abend, und äußerte den Wunsch, sie am nächsten Wochenende wieder im Tanz-Café treffen zu wollen. Sie sagt mit einem koketten Lächeln zu.

Auf der Heimreise schloss Eric öfters die Augen, um das Erlebnis mit seiner Tanzpartnerin noch einmal an sich vorbei ziehen zu lassen. Er wünscht sich sehr, diese Frau näher kennen zu lernen. Immer wieder in einer ruhigen Stunde während der Arbeit, vor dem Einschlafen oder beim Erwachen, eilten seine Gedanken und Fantasien zu ihr. Eine Woche konnte unter diesen Umstanden recht lange dauern. Er musste aber die angenehme Vorstellung, sie bald wieder im Arm zu halte, und sich mit ihr auszutauschen zu können, nicht verscheuchen; im Gegenteil, er konnte es zulassen, sich auf ein baldiges Wiedersehen zu freuen.

Eric saß wieder im Zug Richtung Säckingen. Obwohl das Abteil gefüllt war, befasst er sich nicht mit den Frauen um ihn herum. Er war aber intensiv dabei, sich auszumalen, wie die nächste Begegnung mit seiner Tanzpartnerin ausfallen würde. Ob sich die Gelegenheit ergeben würde, gegenseitig etwas mehr von sich selber erzählen zu können?

Er betrat das Café, suchte einen freien Tisch und stellte enttäuscht fest, sie war noch nicht da. Während Eric seine Bestellung aufgab, betrat sie das Lokal. Sie schaute sich suchend um. Eric war sich sicher, dass sie nicht nur irgend einen Platz suchte. Das Lächeln, als sie ihn bemerkte, deutete ja an, dass sie sich freute, ihn zu sehen. Er stand auf und benutzte die Gelegenheit, sie zu begrüßen und ihr einen Platz an seinem Tisch anzubieten. Aus ihrer zustimmenden Reaktion glaubt Eric zu erkennen, dass sie dieses Angebot erwartete. Er half ihr aus dem Mantel mit der Bemerkung: “Ich freue mich sehr, dass Sie mein Angebot annahmen, ergibt sich daraus doch auch die Möglichkeit, mit Ihnen ein wenig zu plaudern. Ich muss dann auch nicht mehr mit Gesten um den nächsten Tanz bitten, und kann mir die Konkurrenz besser vom Leibe halten.” Sie gab zur Antwort, nachdem sie Platz genommen hatte: “Sind sie immer so zielstrebig?”  Eric fühlte sich ein wenig durchschaut und entschloss sich, nahe an der Wahrheit zu bleiben indem er antwortete: “Es kommt sehr auf die Umstände an. Wenn ich, wie im Moment bei Ihnen, interessiert bin, ihr Einverständnis zu gewinnen, mir Gesellschaft zu leisten, ist es mir wichtig, meine Chancen zu klären. Im Übrigen halte ich auch sonst nicht allzu viel davon, die Unwahrheit zu sagen. Dass ich mich sehr freute, sie hier wieder zu sehen, hätten Sie ja auch an meinen Gesten erkannt.

In diesem Augenblick spielte das Trio einen langsamen Walzer. Eric bat um diesen Tanz und summte leise den Text mit <Glaube mir, glaube mir, meine ganze Liebe schenk ich Dir…>.” Die Tanzfläche war noch nicht voll besetzt, sodass es möglich war, freie Figuren zu tanzen. Musik und Bewegung gingen in einander über. Im Wechsel von Tanz, geruhsamen Pausen, und leichter, angenehmer Unterhaltung, verging der Abend viel zu schnell. Eric fraget seine Partnerin, ob es für sie auch wünschenswert wäre, sich gegenseitig vorzustellen. Ein Ratespiel nach passenden Vornamen setzte ein, führte allerdings nicht zum Erfolg, so dass sie diesen Versuch aufgaben. Sie nannt ihren Vornamen <Alice>, Eric den seinen.

In den folgenden Wochen und Monaten trafen sich Eric und Alice oft zum Tanz, und so oft es das gegenseitige Vertrauen erlaubte, auch in deren Wohnung: Sie stammte aus Schlesien, wurde im Verlauf des Krieges ausgesiedelt, erlebte die Flucht vor den Russen zu Fuß und auf Pferdewagen, der Witterung ausgesetzt, das Lagerleben im zerstörten Deutschland, und die Umsiedlung, die sie nach Säckingen führte. Ihr Mann war im Krieg gefallen. Über ihr schmerzlichen und zum Teil sehr grausamen Erfahrungen sprach sie wenig. Sie übernahm aber mutig, die ihr zugefallene Aufgabe, packte an, und sorgte im Blick nach vorne tatkräftig für sich und ihre beiden Kinder. Ein Schicksal, das sie in jener Zeit mit vielen Flüchtlingen teilte. Eric wurde nach und nach in diesen familiären Kreis aufgenommen, lernte Alice, deren schulpflichtige Kinder Udo und Helga schätzen und erwiderte deren Zuneigung.

Die Wohnung war nicht übermäßig groß aber sehr geschmackvoll eingerichtet und bot allen ausreichend Platz. Die Kinder hatten ihr eigenes Zimmer. Alice verstand es, für eine gemütliche Atmosphäre zu sorgen und die Räume mit Dekor und Blumen zu schmücken. Eric freute sich sehr, wenn er nach einer arbeitsreichen Woche wieder im Zug Richtung Säckingen saß. Obwohl es zu vielen angenehm verlaufenden Begegnungen im Tanzcafé und der Wohnung kam, dauerte es sehr lange, bis es zu erotischen Kontakten kam. In einer von gegenseitigem Respekt und Vertrauen getragenen Beziehung, lernte Eric Alice zu lieben, und fühlte sich auch von ihr geliebt.

Ab diesem Zeitpunkt beschäftigte ihn die Frage immer mehr, ob es möglich sein könnte, diese Beziehung zu legalisieren. Er brauchte wiederum eine längere Zeit, bis er sich klar genug war, dass es genau darum ging, Alice zu heiraten, oder aus Respekt vor ihr und den Kindern die Beziehung aufzulösen. Es war für Eric ein schmerzlicher Prozess, sich unter den gegebenen Umständen auch auf eine mögliche Trennung einzustellen. Schien es ihm doch sehr fraglich, ob er je wieder eine Frau finden würde, mit der er in gegenseitiger Liebe zusammen leben könnte. Er musste daher mit ihr sprechen, ohne ihre Reaktion zu kennen: Eines Abends saß er mit Alice zusammen und sagte: “Ich habe mir nach unserer langen Bekanntschaft in letzter Zeit immer wieder die Frage gestellt, wie wir unsere Beziehung weiter gestalten könnten?”. Nun kann ich Dir, Alice, sagen, dass ich Dich heiraten will, wenn auch Du meine Frau werden möchtest?. Ich sage das nicht leicht hin und habe lange über uns nach gedacht.” Alice schaut ihm tief in die Augen und bemerkte: “Ich habe gefühlt, dass Du Dich verändert hast, und mit dieser Frage gerechnet. Schau, Eric, so sehr mich nach der langen schönen Zeit mit Dir Dein Vorschlag ehrt und freut, ich kann nicht zustimmen. Du bist etwas jünger wie ich und in der Lage, eine zu Dir passende Frau zu finden und mit ihr Kinder zu haben. Gerade weil ich Dich liebe, liegt mir sehr an Deinem Wohl. Ich wünsche Dir von ganzem Herzen eine liebenswerte Frau und bin sicher, dass Du mit Ihr auch glücklich werden kannst. Wir werden uns daher trennen müssen.” Eric antwortete: “Mich zu trennen von einer Frau, der ich sehr viel verdanke, einer Frau, von der ich mich mit Sicherheit geliebt weiß, zu trennen auch von Udo und Helga, die mir ans Herz gewachsen sind, fällt mir sehr schwer. Ich bin mir nicht sicher, ob sich Deine guten Wünsche in Zukunft erfüllen«. Er nahm Alice in die Arme und sagte: “Ich könnte es nicht ertragen, wenn Dir oder den Kindern ein Leid geschähe. Menschen zu begegnen die frei von Lüge zu gegenseitigem Respekt und zur Liebe fähig sind, ist eine große Gnade”. Tief bewegt verabschiedet sich Eric von den Dreien mit den Worten: “Möge Euch Gott schützen und mir helfen, Euch dankbar einen Platz in meiner Erinnerung zu bewahren”. Es vergingen viele Tage und Nächte, in denen Eric trauerte und sich immer wieder die Frage stellte, ob es richtig war, sich von Alice zu trennen. Jetzt konnte er ermessen, was es für Menschen bedeutet, Liebe zu erfahren, die alles Schöne und Kostbare hegt, pflegt und  dankbar in Erinnerung bewahrt.

Ein Wiedersehen?

Sie hatte nicht angerufen. Eric war ihr auch nicht begegnet. Er hatte zwar oft an sie gedacht und gelegentlich ermutigend gespürt, dass sie ihm beim Schreiben über die Schultern zuschaute. Es war eine längere Zeit verstrichen, seitdem er mit ihr über sein Vorhaben, ein Buch zu schreiben, gesprochen hatte, und sich von ihr verabschiedete. Obwohl nur eine Geschichte und kein Roman entstand, fühlte er sich in der Pflicht, sein Versprechen zu halten, und ihr das fertige Manuskript zur Lektüre zu überlassen. Wie mag es ihr ergangen sein in der Zwischenzeit? Ob ihr Interesse erhalten blieb, das Buch zu lesen? Während er darüber nachdachte, fühlte er sich ihr nahe und hoffte, sie bald wieder zu sehen.

Ohne zu zögern, griff er nach ihrer Visitenkarte und rief sie an. Sie meldete sich mit ihrem Vornamen <Luise<. Eric erkannte sofort ihre Stimme wieder und sagte: “Hier spricht der Mann, mit dem Sie im Frühjahr in einem Straßencafé in der Stadt über seine Absicht gesprochen hatten, ein Buch zu schreiben, um auszudrücken, wie sehr er vielen Frauen, denen er begegnete, dankbar sei.”  Sie hob ihre Stimme ein wenig an und äußerte: “Ich habe Sie sofort an Ihrer Stimme erkannt und freue mich sehr, von Ihnen zu hören. Ihre Visitenkarte hatte ich schon mehrfach in der Hand, und stand nahe bevor, Sie einmal an zu rufen, wusste dann aber nicht, ob es ihnen recht ist, genau wie damals, als ich Sie um einen Platz an ihrem Tisch bat. Ich entschied mich dann, nicht anzurufen, obwohl ich mir irgendwie sicher war, es könnte Ihnen nicht unangenehm sein”. Er entgegnete: “Ich hätte mich sicher gern mit Ihnen unterhalten, genau wie jetzt, denn ich sehe Sie so vor mir, als säßen Sie mir gegenüber. Ich hoffe sehr, dass Sie sich nicht zu sehr grämten, weil mein Anruf ausblieb?” Das damalige Gespräch mit Ihnen und Ihr Interesse an meiner Arbeit half mir, mein Vorhaben, einen Roman zu schreiben, zugunsten einer Geschichte aufzugeben. Denn ich konnte darauf vertrauen, dass Sie auch an einer Erzählung Freude haben könnten. Sie können daraus ablesen, welchen Eindruck Sie auf mich machten. Es sind an die dreißig Seiten geworden, die ich Ihnen sende. Bitte rufen Sie zurück, wenn Sie die Lektüre abgeschlossen haben. Wir könnten danach vereinbaren, ob und wo wir uns zu einem Gespräch treffen wollen? Sie war mit diesem Vorschlag einverstanden.

 

 

 

 

 

 

Der Birnbaum

Kein Laut ist zu vernehmen an diesem Morgen Ende November. Mensch und Natur gönnen sich eine Auszeit. Nichts stört das Schweigen. Die Stille erfasst auch mich. Durch die kahlen Bäume sind deutlich die verschlafenen Nachbarhäuser zu sehen. Es fehlt jede Spur eines Windhauches. Nur spärlich vorhandene, spätherbstlich-goldbraune Blätter, hängen schlaff und regungslos an den Ästen. Tief am Horizont, hinter Wolkenbänken versteckt, lässt die neblig leuchtende Sonne, die Konturen entlaubter Bäume kräftig hervortreten. Ihr schräges Licht fällt in unser Wohnzimmer, zaubert edlen Glanz auf die silberne Teekanne und belebt ab und zu im Spiel mit dem Schatten unsere Wohnung.

Wie im Rahmen eines Bildes, richtet sich vor mir, beim Blick durch das Fenster, majestätisch der hohe, ausladende Birnbaum auf. Er steht an der Grenze unseres Grundstückes zur Klinge hin, die uns immer frische Luft zufächert. Nur die Birke mit ihrem weiß-grauen, schartigen Stamm, ist annähernd gleich hoch. Sie gibt ihr Herbstkleid noch nicht preis und steht in reichlich bräunlich-grünem Blattwerk. Die schlanken Fichten zu ihrer Seite lassen lediglich an den überreifen krummen Zapfen die Jahreszeit erkennen. Sie legen keinen großen Wert auf Veränderung und halten jahrein, jahraus, an ihren dunkel- und hellgrünen stacheligen Zweigen fest. Zu Füßen des Birnbaums reihen sich, der Grenze entlang, wie Kinder im Reigen, herbstfarbene Büsche.

Im Gegenlicht, tritt die natur – geschaffene Schönheit unseres „Nachbarn“ besonders deutlich hervor. Fest verwurzelt, Wind und Wetter trotzend, teilt sich der kräftige Stamm in einem formenreichen, bizarren Spiel, bis ins zarte äußerste Geäst. Wie eine Skulptur in ihrer nackten Schönheit, steht er entblättert vor meinen Augen. Staunend frage ich mich, welcher Künstler dieses vielgestaltige Astwerk auch nur annähernd darstellen könnte. Nun ist mehr als deutlich zu erkennen, dass der Birnbaum schon lange, wer weiß wie lange, seinen Platz behauptete, denn eine grüngraue Moosschicht bedeckt an der Wetterseite den kräftigen Stamm und die stabilen Äste bis hinauf, in  den Wipfel. Erhaben, stolz, steht er in seiner stillen Würde auf dem ihm eigenen Boden. Nur ab und zu bekommt der Birnbaum Besuch von einer Elster und einem Sperling. Dann zittern Zweige aufgeregt bei der Landung und winken den Freunden beim Abflug leise nach. Wenn ich unseren Nachbarn in einer gedachten Linie umgrenze, ist unschwer zu erkennen, dass er ein wahrer Birn- und kein Apfelbaum ist. Wer wollte ihm diesen Anspruch streitig machen?

Er war vor uns da. Seit einiger Zeit dürfen wir uns an seinem übers Jahr wechselnden Liebreiz erfreuen: Im Frühling hüllt er sich in ein weißes Blütenmeer, im Sommer spendet er Schatten, im Herbst einen unerschöpflichen Reichtum an Früchten. Danach zeigt er uns seine markante Statur. Er wird den Herbstwinden trotzen, diesen Winter überstehen und uns in unterschiedlicher Gestalt auch im nächsten Jahr an die Beständigkeit in aller Veränderung erinnern. Vielleicht freut sich unser stummer Freund ein wenig darüber, wenn wir ihn nicht übersehen und davon erzählen, wie reich er uns beschenkt. Wir dürfen mit seiner Verschwiegenheit rechnen. Er wird alle Worte in seinem „Herzen“ bewahren und hoffentlich auch die Menschen erfreuen, die nach uns kommen. Ich schenke ihm die letzte wunderschöne Rose unseres Gartens.

 

 

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