Wir sitzen im Wohnzimmer und meine Frau strickt. Es ist nur das leise aneinander Reiben der Nadeln zu hören. In der momentanen Stille erinnere ich mich an ähnliche Situationen in meiner Jugend. Damals fühlte ich mich manchmal sehr wohl und meiner Mutter innig verbunden, wenn sie in der Küche das Geschirr spülte und ich sie beim Klappern der Teller in der Nähe wusste. Im Augenblick geht es mir genau so. Schweigend genieße ich die Zweisamkeit mit meiner Frau. Ab und zu beobachte ich sie auf meinem Sessel hinter ihr und freue mich, sie so entspannt sitzend zu sehen. Ich weiß, wenn sie nadelt, geht es ihr gut – und mir dann auch. Ein wenig Himmel auf Erden. Verbindet uns doch unaussprechlich viel, seit wir uns vor über fünfzig Jahren das erste Mal sahen. Immer wieder bin ich dankbar, wenn ich sie an meiner Seite glücklich erlebe. Das nun aufkommende Gespräch, öffnet unsere Zweisamkeit. Wir reden mit einander über die vergangenen Tage.
Iris hatte am Abend zuvor aus Interesse an Märchen die Sendung „Alice im Wunderland“ eingeschaltet. Hingegeben verfolgt sie, um mir Ruhe zu gönnen, mit Kopfhörern das Geschehen. Ich beteiligte mich etwas halbherzig und genoß das beim Fernsehen übliche Schweigen, um meinen stets bereiten eigenen Fantasien freien Lauf zu lassen. Gelegentliche Stille, in der sich viel ereignet, ist für mich geradezu lebenswichtig. Immer wieder gönne ich mir deswegen eine Pause, um die vielen Eindrücke und Informationen, denen ich nicht entgehen kann, auf ihre Bedeutung für uns zu überdenken. Aber genau in dem Augenblick, als Alice im Märchen dem Hasen folgend, durch ein Loch im Wurzelwerk eines ausladenden Baumes, in ein weit verzweigtes unterirdisches Labyrinth hinabstürzt, tauche auch ich ab in ein kleines Nickerchen. Auf diese Weise verpasste ich den größten Teil der Sendung. Ab und zu muss ich aber doch wieder ein wenig zu mir gekommen sein. Nach einem jeweils kurzen Blinzeln schlossen sich aber die Lieder wieder, als ich bemerkte wie heftig Alice noch mit den schrecklichen Wesen der Unterwelt kämpfte. Die innere Uhr
weckte mich aber exakt in dem Augenblick, als Alice nach langer Irrfahrt wieder gesund, gestärkt und wohlbehalten aus dem Labyrinth auftauchte. Nach dieser Sendung drehte sich meine Frau um, sah mich etwas besorgt an und fragte: „Weinst Du, bist Du etwa traurig?“ Es mag durchaus sein, dass ich beim inneren „Wiederkäuen“ von Erlebnissen im Halbschlaf oder träumend auf wichtige Dinge gestoßen bin, die einer Träne Wert waren – wer weiß das schon genau. Wahrheitsgemäß antwortete ich: „Sollten Dir meine Augen feucht erscheinen, dann könnte das eher bedeuten, dass ich mich wie Alice im Märchen darüber freue, eigene Kämpfe und Trauer im Leben auch schadlos überstanden zu haben.“ Angeregt durch das Märchen, kamen wir auf gemeinsame Erlebnisse in den letzten Tagen zu sprechen, die uns überraschten und der Fantasie reichlich Nahrung boten. Diese kleinen Geschichten aus unserem Alltag möchten wir Ihnen, liebe Leser, nicht vorenthalten.
Vor Tagen fuhren wir mit der Regionalbahn nach Stuttgart. Iris nimmt dort an Vorlesungen über Karl den Großen teil. Da ich mich derzeit im Blick auf das Zeitgeschehen oft besorgt frage, was geschehen müsste, damit wir Europäer nicht wieder in National-Staatlichkeit zurückfallen, interessierte mich, was die heutige Forschung uns über Karl den Großen vorlegt. Hatte er doch damals in einer bedeutenden geschichtlichen Epoche, ähnlich wie wir heute, schwierige Aufgaben zu bewältigen, um das weit ausgedehnte Reich zu verwalten und zu einen. Die Frage, was heute zum Wohl Europas geschehen müsste, treibt mich schon lange um. Ich werde mich zu gegebener hierzu äußern. Dies ist aber dann eine andere Geschichte. Hier will ich nur andeuten, was mich veranlasste, meine Frau an diesem Tag zu begleiten.
Die Realität holte uns Altstudenten nach der Vorlesung wieder rasch ein, denn es galt, die Abfahrtszeit unseres Zuges zur Rückreise nach neuem Fahrplan zu bestimmen. Meine Frau kennt sich, der vielen Termine wegen, in der Stadt unstrittig besser aus als ich. Manchmal verlieh ich ihr schon insgeheim den Titel einer „Wahl-Stuttgarterin“ Deshalb lasse ich mich in der Regel gern von ihr durch die belebten Strassen führen. In dem aktuellen Falle geschah dies aber nicht. Denn ein kleines Teufelchen männlichen Aufbegehrens gab keine Ruhe, sodass ich sehr bestimmt, am Ende jedoch ineffektiv, darauf bestand, auch selbst auf irgendeine Weise die Abfahrtszeit des Zuges herausfinden zu können. Die Miene meiner Frau verhieß darauf hin nichts Gutes. In der Folge hatten wir einige Mühe, die etwas eingetrübte Stimmung wieder auszugleichen. Ich musste zu diesem Zweck, in meiner männlichen Ehre zwar etwas gekränkt, aber ohne ernstlichen Schaden zu nehmen, meine „Protestfahne“ wieder einrollen. Denn Iris führte mich im Bahnhof zielstrebig zu einem Stand, an dem die neusten Fahrpläne kostenlos angeboten wurden. Der Selbständigkeit halber versorgte ich mich auch mit den aktuellsten Informationen über die Ankunfts- und Abfahrtszeiten der Züge. Ich muss gestehen, dass wir heute unsere unterschiedlichen Standpunkte weniger kämpferisch vertreten und bei geringerem Aufwand eher beidseits befriedigende Lösungen erzielen, als in früheren Jahren. Es lohnte sich daher für uns in vielen Versuchen geduldig zu lernen, was geschehen muss, um immer wieder einen Ausgleich der Interessen zu erreichen. Manche Menschen nennen diesen Umgang mit einander sogar Liebe.
Als ob uns das Schicksal an diesem Tage nicht besonders wohl gesonnen wäre, steuerten wir bereits ohne etwas davon zu ahnen, auf den nächsten Dissens zu: Ich stürmte, um unseren Zug nicht zu verpassen, entgegen sonst üblicher Praxis voraus. Ein Blick auf die Abfahrtstafel zeigte mir, dass Eile geboten war. Die Regionalbahn stand an unserem Bahnsteig schon bereit, um in drei Minuten Stuttgart zu verlassen. Die Erregung stieg zusehends, als ich zurückblickend meine Frau nirgends entdecken konnte. Das hatte mir gerade noch gefehlt. Wütend steige ich, begleitet von dem wenig schmeichelhaften Gefühl, „möge sie nun nach Hause kommen, wann sie will“, in einen
der hinteren Wagen des Zuges ein. Eine unerklärliche Hoffnung auf ein Wunder ließ mich aber an der offenen Türe warten. Und siehe da, in letzter Sekunde vor Abfahrt des Zuges, taucht Iris auf, sieht mich, stürzt herbei und steht schwer atmend, aber wie ein unschuldiges Lämmchen neben mir. Ich wollte schon zu einer Gardinenpredigt ansetzen, da erklärte sie mir mit einem versöhnenden Blick, sie habe einen Blinden zum Zuge führen müssen. Nicht einmal meine durchaus berechtigt Wut konnte ich nun loswerden. Die Kritik an ihrer für mich unangenehmen Verspätung blieb mir bei diesem Sachverhalt im Halse stecken. Einem blinden Menschen hätte ich doch auch geholfen.
Die Gemüter beruhigten sich nicht wesentlich, als wir uns danach durch einige Wagen des voll besetzten Zuges hindurch quälen mussten, um im vorderen Bereich einen Platz zu ergattern, der für den Ausstieg am Zielbahnhof günstiger lag. Wir verzichteten weise auf eine grundsätzlichere Aussprache zum Thema Verspätung. Hatte doch mein Schwiegervater deswegen schon unter der Türe stehend zu leiden, um auch die letzte seiner Töchter vor der Abreise noch einzufangen. Was die Pünktlichkeit anbelangt, bin ich mit meiner Frau und drei Töchtern gesegnet, sein direkter Nachfahre. Auf der Rückreise aus Stuttgart, gelang uns aber auf elegante Weise, das Thema zu wechseln. Waren wir doch beide mehr an einem Gespräch über Details der interessanten Vorlesung interessiert, als daran, die Gründe zu erforschen, weshalb es in unserer Familie die betrübliche Neigung gibt, dass die Damen oft zu spät kommen. Wir wurden dabei durch ein unangenehmes Geräusch aus dem Lautsprecher so sehr gestört, dass wir in einen anderen Wagen flüchteten, um auch dieser Belästigung zu entgehen.
Bei der anschließenden anregenden Unterhaltung, verging die Zeit wie im Fluge. Irgendwann hielt der Zug irgendwo. Ich schaue kurz aus dem Fenster und behaupte, wir sind schon in Backnang, und damit bald zu Hause. Ein vergnügtes Kichern junger Damen neben uns, und deren Hinweis, dass wir uns bereits in Murrhardt befänden, und nun die anfahrende Regionalbahn nicht mehr verlassen könnten, überraschte uns nicht wenig. Die freundlichen Mädchen zückten hilfreich ihre Handys, nannten uns die nächste Station, und informierten uns über die Abfahrtszeiten zu einer möglichen Rückreise.
Der Zug hält, wie angesagt, in Fornsbach. Bei leichtem Nebel und anbrechender Dunkelheit, befinden wir uns auf einem menschenleeren Bahnsteig. Es ist ziemlich kalt an diesem Abend. In einsetzendem leichtem Schneefall bewegen wir uns im Schein einiger trüber Straßenlaternen, Richtung Ortsmitte. Wir freuen uns schon darauf, die etwa eineinhalb Stunden bis zur Rückreise, zu unserem Vergnügen nutzen zu kännen, und uns das kulinarische Angebot des empfohlenen Gasthaus „Krone“ munden zu lassen. Das Restaurant, das wir in einiger Entfernung erblicken, wirkte auch in der Nähe sehr einladend, hatte aber nur den Nachteil, dass es heute wegen des Ruhetages geschlossen war. Damit hatten wir nicht gerechnet. Wir sehen uns um, und entdecken zum Glück eine kleine Imbissstube. Etwas durchgefroren, ging es uns wie Maria und Josef, die einst mit ihrem Kind auch ein Dach über dem Kopf suchten. Wir treten ein und werden in einem gut beheizten, mit einem Tresen, zwei Tischen, Stühlen und dem unvermeidlichen Fernseher ausgestattetem Raum, von einer freundlichen, mit Kochmütze dekorierten Bedienung empfangen. Unter den gegebenen Umständen entscheiden wir uns, nach Möglichkeit, eine Rückreise mit der verflixten Eisenbahn zu vermeiden.
Mit Hilfe eines anwesenden jüngeren Paares gelingt es, per Handy eine Taxe herbei zu rufen. Die Wartezeit bis zur Abfahrt reichte gerade noch zu einem Glas Bier. Unsere Bedienung wunderte sich sehr, als wir ihr, im Blick auf den zu erwartenden glücklichen Ausgang unseres Unternehmens, ein großzügiges Trinkgeld gaben. Die Frau mit der Kochmütze verneigte sich mehrmals erfreut dankend von ihren späten Gästen. Der Taxifahrer, der uns nach Oppenweiler zurückbrachte, erzählte kenntnisreich aus früheren Zeiten. Er habe beruflich schon oft mit uns zu tun gehabt, und wüsste genau, wo wir wohnten.
Einige „Schutzengel“ standen uns heute zur Seite, sodass wir, wie „Alice im Wunderland“, wieder den rechten Weg durch das Labyrinth unserer Reise nach Hause fanden. Auf diese Weise bestätigte sich auch der Volksmund, der behauptet: „Wenn einer eine Reise macht, dann kann er was erzählen!“