Das Geheimnis

Es klopfte wieder einmal an die Türe. Ich öffnete, gewährte dem geheimnisvollen Gast mit einladender Handbewegung Eintritt, und bot ihm den schönsten Sessel unserer Wohnung als Ehrenplatz an. In erwartungsvoller Stille saßen wir uns in bequemen Sesseln eine Weile gegenüber. Nur das Ticken der Wanduhr war zu hören. Das „Unerklärliche“ hatte sich bereits einige Tage zuvor angemeldet; nicht mit Worten -versteht sich-, sondern durch eine sehnsuchtsvoll unruhige Stimmung in mir, wie vor einem bedeutenden Ereignis. Unsicher und ängstlich, hielt ich schon oft meine Tür verschlossen, als hätte ich das Klopfen überhört. Jedoch heute öffnete sich die Türe wie von selbst, obwohl ich jetzt auch unsicher war, was ich mit dem geheimnisvollen Gast reden sollte. Ich wusste aber aus Erfahrung, dass das „Unerklärliche“ sehr zudringlich war, und gebeten oder ungebeten wieder käme, auch wenn ich ihm den Eintritt in unsere Wohnung verweigert hätte. Das U. ließ sich heute aber nicht vertreiben. Es war da und spürbar nahe in der Spannung und Erregung des Augenblicks. Was es mir zu sagen hatte, wusste ich nicht. Das machte mir ein wenig Angst, und zugleich auch Hoffnung. Es war ja kaum zu glauben, dass ich das U. schon lange kannte. Wir hatten sozusagen jahrelange Erfahrungen im Umgang mit einander. Voneinander lassen konnten und wollten wir nicht, als wäre das „Unerklärliche“ auf geheimnisvolle Weise ein Stück von uns beiden.

Heute lag ihm wohl sehr daran, mich wieder einmal zu besuchen, um mit mir zu sprechen: Im Stillen -ohne dass es die Anderen merkten- redeten wir ja schon oft stundenlang miteinander. Wir kannten uns daher gut. In vielen Jahren waren wir echte Freunde geworden. Jeder Besuch meines Gastes, war immer aufregend. Langeweile gab es nie in seiner Gegenwart, denn wir hatten einander im Geheimen unendlich viel zu erzählen. Oft haben wir auch mit einander gerungen, gestritten, oder bis zur Erschöpfung gekämpft. Leib und Seele waren dabei immer beteiligt. Manchmal hatte ich am ganzen Leib gezittert, auch nachdem sich das „Unerklärliche“ wieder entfernt hatte; und geschwiegen, wie ein Grab, denn wer erzählte schon gern von einem Geheimnis dieser Art? Wenn ich unbedacht davon erzählt hätte, was zwischen uns wirklich geschah, hätte ich das U. und mich selbst möglicherweise der Häme ausgesetzt. Wer konnte schon das „Unerklärliche“ verstehen? Ich ja auch nicht. Und dennoch: Es mag komisch klingen, aber irgendwie verstanden wir uns immer wieder neu. Verstanden uns aber auch die Anderen? Wir brauchten Stille, die unser Geheimnis barg.

Das „Unerklärliche“ machte auch keine billigen Geschenke. Der Gast war einfach nur da, wenn er da war. Eine Fülle in der Stille. Er brachte aber immer neue Worte in unser Gespräch ein, die noch nicht aufgebrochen, oder durch Gebrauch abgenutzt waren. Mir blieben dann manchmal die eigenen Worte im Halse stecken. Man konnte sagen, dass wir oft wortlos miteinander redeten und uns dennoch verstanden. Obwohl mein Gast, das „Unerklärliche“ wirklich bei mir war, wir saßen einander ja gegenüber, konnten wir uns nicht greifen oder festhalten. Das hätte unsere Würde verletzt. Ich war mir aber gewiss, dass das U. oft so da war, als ob ich es hätte sehen und hören können. Es erschien mir dann sehr freundlich. Als Feind war es für mich nie existent. Ganz sicher war ich aber auch jetzt nicht, ob wir nicht wegen Nichtigkeiten wieder kräftig an einander geraten könnten. Ich war aber des vielen Streitens mit dem „Unerklärlichen“ müde, denn es meinte es ja eigentlich nur gut mit mir. Das U. gab aber mir gegenüber nie eine Erklärung ab, warum es da ist und mich mag. Manchmal dachte ich auch, dass mich das Unerklärliche, wenn ich es einließe, von Wichtigerem ablenken könnte. Das bezweifle ich aber heute, denn das eindringliche U. ließ sich ja meistens gar nicht so leicht abweisen. Vielleicht war es ja schon immer seine Art, an mir wirklich Gefallen zu finden? Heute saßen wir uns ja auch wieder einmal eine Weile gegenüber, und meine Augen und Ohren hatten sich an die Eigenart des U. gewöhnt.

Es schien mir so, als ob ich es jetzt sehen und hören konnte, aber nicht so, wie man allgemein sah und hörte. Dennoch erlebte ich das „Unerklärliche“ über allen Maßen sprechend und sehend. Wir redeten ja schweigend miteinander, wie von Herz zu Herz, wie das Einatmen und Ausatmen. Ebenso wie echte Freunde einander wohlwollend und schweigend bis in die Tiefen ihrer unaussprechlichen Geheimnisse begegneten, denn das U. geschah und entzog sich zugleich. Vielleicht gab es später einmal etwas von seinem Geheimnis preis, oder es wollte mir im Schweigen nur Wichtigeres sagen. Hoffnung, Ehrfurcht und Spannung blieben bei unseren Begegnungen in mir, als würden alle Sinne, der ganze Körper und die Seele in Gegenwart des Freundes benötigt. In ihm, in mir und in allem war und blieb das „Unerklärliche“, aber kein Nichts, sondern ein erfülltes Geheimnis.

Gottesgabe die Zeit
Franz Schwald
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