Heimat

Die Menschen, Felder und Wälder um Oppenweiler herum, geben ihre Geheimnisse und ihren Segen nicht so leicht preis. Wer aber bereit ist, diese Region wie eine schöne Braut zu umwerben, dem wird sie mit der Zeit zur bergenden Heimat. Davon soll nun die Rede sein: Einige von Ihnen werden den Weg, von Oppenweiler das Tal hin, durch den Wald, hinauf zum Eschelhof, und über Zell zurück kennen. Oft bin ich diesen reizvollen Wanderweg selbst gegangen. Manchmal nahmen mich Wald und Flur liebevoll an der Hand und zerstreuten zeitweiligen Griesgram. In früheren Jahren benutzte ich den Weg, etwas despektierlich, als Rennstrecke, um festzustellen, wie schnell ich die Runde rennen konnte. Auch heute begegne ich bei meinen Wanderungen Menschen, die diesen Weg nur als Trainingsstrecke kennen. Es könnte zwar sein, dass sie ab und zu miteinander reden. Ich frage mich aber, was sie, bei forciertem Tempo, in der Natur sehen oder erleben können?  Manchmal begegne ich einer etwas erschöpften, aber offensichtlich glücklichen Mutter, die nicht nur ihr Kind spazieren fährt, sondern zugleich einen neugierigen, wuseligen Hund Gassi führt. Eine feine Abwechslung für einen Wanderer wie mich, dann in die weltoffenen Kinderaugen zu blicken, sich ein vorsichtiges Lächeln zu gestatten und zu hoffen, dass auch das Kind ein wenig lächelt. Wenn das gelingt, freuen wir uns beide. Ich bin froh, dass der befestigte Teil der Strecke, in einen den Füßen angenehmeren Waldweg übergeht. Die leichte Anhöhe zu gehen, macht mir, da der Rücken mich nicht mehr plagt, wenig Schwierigkeiten. Ich nutze eine mir vertraute Gehhilfe. Meine betagten Wanderstöcke, aus früheren Jahren in den Bergen, begleiten mich, und mahnen, mir heute auf meinem Weg, Zeit zu lassen.

Von fern höre ich die Geräusche einer Motorsäge. Als ich näher komme, erkenne ich ein älteres Ehepaar, das sich mit Hilfe eines jungen, kräftigen Mannes abmüht, ihr Waldstück zu pflegen und eine über den Weg gefällte Tanne zu zerlegen. Ich mache Halt. Diese ansässigen, alten Bauern, sind mir sehr sympathisch. Ich schätze ihre Treue zur Scholle, ihre Mühen,  und den Fleiß, die Felder und den Wald zu hegen und zu pflegen, obwohl es dem »Ende« zugeht. Bauern, die emsig wirken, und wie die Meisen heute auf unserer Kiefer vor dem Fenster, munter hin und her fliegen, obwohl sie nicht wissen, wann der kalte Winter kommt. Wir begrüßen uns freundlich, plaudern ein wenig. Auch die geschäftigen Alten nehmen sich dafür Zeit, einfach so. Ich erzähle von meinen Verwandten, die es ähnlich gemacht haben und bin mir nicht mehr ganz sicher, wem mein Herz mehr gewogen ist, diesem Ehepaar, das ich seit Jahren kenne, oder meinen Verwandten, die ich in Ehren halte. Sei´s drum, dann mag ich eben Beide. Doch da unterlief mir möglicherweise ein Fehler: Ich fragte, warum sie sich in ihrem hohen Alter, diese Last schwerer körperlicher Arbeit zumuten würden? Sie hätten es doch verdient, es bei ihrer angeschlagenen Gesundheit, ruhiger angehen zu lassen. Da schaute mich die Bäuerin, die auch ihren kranken Mann noch zu pflegen hatte, wie verständnislos an. Es könnte sein, dass sie Tränen in den Augen hatte, als sie antwortete: » Das machen wir einfach so! «  Ich hatte nicht bedacht, wie sehr diesen Menschen ihre Scholle und die Pflege ihres Waldes an´s Herz gewachsen war. Respektvoll und etwas verlegen, löste ich mich daher aus dem Gespräch. Vielleicht haben diese fleißigen  Bauern mehr vom wirklichen Leben verstanden, als so manche »großartigen Leute«. Ich bin aber glücklich, mit ihnen befreundet zu sein, und freue mich darauf, wenn uns die Bäuerin wieder einmal ein großes selbst gebackenes Brot schenkt.

Ältere Frauen und Männer gehen nicht nur  langsamer, sie bleiben ab und zu auch aus den verschiedensten Gründen einmal stehen. So ging es auch mir. Ich halte an und stehe unversehens vor einem Baum, einer stämmigen, hoch gewachsenen Buche. Offensichtlich hat sie schon lange schweigend an diesem Platz unter vielen anderen Bäumen gestanden, und darauf gewartet, gesehen und bemerkt zu werden. Sie hatte mit den Jahren bis weit ins Geäst hinauf, an der Wetterseite Moos angesetzt. Nun richtete sie sich in ihrer vollen Würde vor mir auf. Als ich staunend an ihr empor blickte, erschien sie mir wie ein prächtiger, gotischer Dom, dessen Vielfalt einfach nicht zu fassen ist. Nun neigte sich mir die Buche im Wind freundlich zu. Sie schien, wie ich, mit sich zufrieden. Wir waren ja gerade dabei, in stiller, schweigender Betrachtung, mit einander Freundschaft zu schließen. Ob sie verstehen kann, dass wir uns schweigend so nahe gekommen sind, dass ich sie nie mehr vergessen werde? Sie gehört von nun an mit zu all den vielen, wertvollen Geschenken meines Lebens. Ganz sicher erkenne ich sie bei meinen nächsten Wanderungen um Oppenweiler herum wieder. Dann wird Halt gemacht. Ich bin  neugierig, was sie mir dann erzählt. Wenn Ihr sie sehen wollt, es gibt sie wirklich, ich zeig sie Euch gern. Vielleicht würde sie sich auch über eine Begegnung mit Euch freuen.

Eine Wegstrecke weiter blicke ich mich überrascht um. Ein Wunder?  Ist es doch einem Strauch gelungen, meine ganze Aufmerksamkeit zu fesseln. Das muss ich Euch erzählen:  Es war ein Strauch in bunten Herbstfarben mit reichlich Blattwerk. Fragt mich aber bitte nicht, zu welcher Sorte Sträucher er zählt. Diese Frage könnte ich Euch nicht beantworten, weil sie mir gar nicht wichtig erscheint. Er war unter den vielen anderen Sträuchern an diesem Tag mein ganz besonderer. Seine Blätter waren nämlich geschmückt mit unzähligen Tautropfen, die wie Perlen im Sonnenlicht glänzten. Offensichtlich kein gewöhnlicher, sondern ein kostbarer Strauch. Nun bin ich auf Überraschungen eingestellt: Ich wandere ein Stück weiter des Weges, gerate ins Staunen und bleibe unwillkürlich stehen. Stellt Euch die untergehende, goldene Herbstsonne vor, mit ihrem milden, weichen, und doch kräftigen Licht. Ihr ging ich entgegen. Meine Großmutter nannte sie einfach »die Alte«. Hat sie doch wahrlich viele Jahre auf dem Buckel, geht morgens auf, zieht ihre Bahn, bringt uns den neuen Tag, wärmt, lockt Leben heraus, um sich abends schlafen zu legen. Meine Großmutter  hat immer sehr respektvoll von der lieben Sonne geredet. Nun just, in diesem Augenblick, schenkt sie mir etwas ganz Besonderes: Sie blinzelt mir verstohlen durch die Blätter einer Buche zu. Das verwirrte mich ein wenig, denn ich kann nicht mehr genau unterscheiden, ob die Sonne, schwabbert oder ob die Blätter der Buche, die sich leicht im Winde drehen, diesen Eindruck hervorrufen. Würdet Ihr mir raten, ein so kostbares Erlebnis zu vergessen? Selbst wenn ich wollte, es ginge nicht. Solche Erfahrungen lassen sich nicht einfach wegwischen. Aber warum sollte ich diesen glücklichen Augenblick vorzeitig zu Grabe tragen.

Es gab auf meiner Wanderung noch weitere schöne Geschenke: Wie ein Lausbub, genoss ich es, mit einem frohen Lied auf den Lippen durch das Herbstlaub zu kicken, und das Rascheln der trockenen Blätter bei jedem Schritt zu genießen. Mit offenen Augen und Sinnen blieb ich weiter im Austausch mit der mich umgebenden Natur. Wie so oft schon, betrachtete ich die Reichenberg, unsere Hausburg, die ich auf meinem Weg immer wieder umkreise. Auf wunderliche Weise schien sie mir heute plötzlich verwandelt. Sie hatte im diesigen Licht der Abendsonne besonderen Schmuck angelegt: Die ganze Burg  war eingehüllt in ein moosgrün-goldenes Gewand. Diese Erscheinung, faszinierte mich so, dass es für mich völlig unwichtig wurde, zu klären, welche Naturgesetze diesen Zauber hervorgerufen haben könnten.  Einige Schritte weiter, hatte die Reichenberg ihr Gewand gewechselt und schien nun wie in einen kostbaren goldroten Mantel gekleidet. Nie zuvor hatte ich die Burg in einem solchen Licht gesehen. Sie kann sich offensichtlich wie ein Chamäleon verwandeln. Als ich dann in die Ebene hinab stieg, und die Reichenberg wieder meine Aufmerksamkeit beanspruchte, war ich ein wenig enttäuscht. Sie hatte all ihre Farbenpracht abgelegt. und stand wie seit alten Zeiten. Oppenweiler als Wächter. und den Wanderern als Begleiter. zu Diensten. Aber nun weiß ich, wie schön sie bei anderem Licht besehen, wirklich sein kann. Auch nicht schlecht, dachte ich.

 

 

 

 

 

Franz Schwald
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