Wir befanden uns im vierten Jahr des auf allen Seiten unter großen Verlusten geführten zweiten Weltkrieges. Die deutschen Truppen zogen sich nach anfänglichen Erfolgen an allen Fronten zurück. Viele Städte lagen zerbombt in Trümmern. Dennoch wurden über die Medien Durchhalteparolen verkündet. Es kursierten Nachrichten, die eine Wende zu unseren Gunsten durch geheime Waffen versprachen. Die Menschen waren des Krieges überdrüssig, viele Soldaten verletzt, gefallen, oder in Gefangenschaft geraten. Werber bemühten sich dennoch, Jugendlichen „ in letzter Stunde“ den Waffendienst zu empfehlen.
Seit zwei Jahren, bis ins Frühjahr 1944, wohnte ich mit Billigung meiner Mutter, in einem Bauernhaus bei Verwandten auf dem Hotzenwald. Mutter- und Vater – Berger hatten mich wie einen Sohn aufgenommen. Ihre eigenen Söhne waren im Feld, der älteste Sohn bereits gefallen. In dieser Zeit litt ich keine Not. Ich arbeitete im Jahreskreislauf im Stall und auf den Feldern mit, wie die anderen Bauernbuben der Ortschaft. Die „Berger-Mutter“ mit ihren roten Wangen, den aufmerksamen blauen Augen und den nach hinten zu einer Rolle geflochtenen, grauen Haaren, war tief religiös. Der stämmige, mittelgroße, „Berger-Vater“ war stolz auf seinen Nebenberuf als Straßenwärter. Nach den wöchentlichen Gottesdiensten in der kleinen Kapelle, kam unser Pfarrer, einer alten Tradition zufolge, ins Bergerhaus zum Frühstück. Er scheute sich nicht, wenn Not an Mann war, bei der Heuernte mit an zu packen. In meiner Erzählung „ Der Hotzenbischof“, habe ich mich dankbar seiner erinnert. Als ihm die Nationalsozialisten den Zutritt zur Schule verwehrten, gab er uns Religionsunterricht in der Stube eines Bauernhauses. Das verband uns Buben und Mädchen noch mehr mit diesem Pfarrer, der in schweren Zeiten für uns ein Vorbild war. Ich folgte seinen überzeugenden Worten, mit denen er über unseren katholischen Glauben sprach, mit großer Aufmerksamkeit, und stellte viele Fragen. In seinem Abschlusszeugnis zeichnete er mich als seinen besten Schüler aus.
In der 7. und 8. Klasse besuchte ich die Schule in Kleinherrischwand. Einige der Buben und Mädchen lernte ich in diesen zwei Jahren näher kennen. Den Jungen war ich zwar körperlich unterlegen, sie respektierten mich aber der schulischen Leistungen wegen. Unsere Lehrerin, eine hübsche Elsässerin, die sich oft in verführerischer Pose mit ihrem kurzen Rock auf die ersten Bänke setzte, habe ich nicht nur wegen ihres lebendigen Unterrichts angehimmelt. Zu Ostern 1944 war die Schulzeit zu Ende. Mein Vater hatte mir in einem seiner Briefe Ende August 1943 mitgeteilt, dass er als Gebirgsjäger bereits seit 4 Jahren an verschiedenen Fronten im Einsatz sei. Er ließ mich wissen, dass er mich in jeder Hinsicht bei meiner Berufswahl unterstütze. Ich könnte bei ihm in Karlsruhe wohnen, falls ich den Besuch einer Hochschule anstrebte. Nach einem Gespräch mit meiner Mutter entschied ich mich aber für meine Heimatstadt Rheinfelden. Ich beabsichtigte, eine kaufmännische Lehre zu beginnen, da mir dies aus damaliger Sicht wünschenswerter erschien.
Nach dem Schulabschluss verabschiedete ich mich dankbar von den liebenswerten „Berger-Eltern“ mit dem Versprechen, dass ich sie nicht vergessen und wieder besuchen werde. Unverzüglich stellte ich mich bei der Firma Metzger, einer größeren Bauunternehmungen in Rheinfelden vor, wurde akzeptiert, begann die Lehre im April 1944, besuchte in dieser Zeit die Handelsschule und beendete beides erfolgreich mit der Gehilfenprüfung zum Baukaufmann im April 1947. Da nach dem Krieg wenig Aussicht bestand, als Baukaufmann irgendwo unter zu kommen, blieb ich der günstigeren Bedingungen wegen, in dieser Firma bis zum Jahre 1962. Zunächst wurde ich in der Lohnbuchhaltung eingesetzt und bediente zusätzlich die Besucher mit ihren Anliegen am Schalter. Manchmal kam in mir Ärger auf, wenn ich die Abwesenheit unseres Chefs mitzuteilen hatte, obwohl er oben in seinem Büro saß. Angenehmer war es, wenn sich der Lohnbuchhalter, der Wert auf gutes Essen legte, sein Vesper holen ließ, und mir einen nahrhaften Trägerlohn zuteilte. Ich hatte auch die angenehme Aufgabe, wöchentlich die Lohntüten zu den Baustellen zu bringen. Dort war ich in dieser Funktion bei den Polieren, Maurern und Hilfsarbeitern gern gesehen, konnte mich auf den Baustellen umsehen, und den Fortschritt der Arbeiten beobachten. Noch heute erfasst mich ein Kribbeln, wenn im Frühjahr die Baumaschinen wieder brummen.
An die regelmäßige Arbeitszeit, auch an Samstagen von 8-12, und an den anderen Tagen auch mittags von 13-17 Uhr, musste ich mich aber erst gewöhnen. Schon wenige Minuten nach Feierabend klopfte ich an die Türen meiner Freunde Rolf und Berthold. Wenn wir abends nicht zu dritt auf Tour waren, wurden wir gefragt, ob einer von uns krank sei? Berthold verdiente damals als Uhrmacherlehrling am meisten, und hielt uns oft über Wasser, wenn wir schwach bei Kasse waren. Ich wohnte wieder zu Hause und bekam ein eigenes Zimmer, das ich in späteren Jahren mit einfachen Möbeln und einem Radio nach eigenen Vorstellungen einrichtete. Unsere Mutter hatte es mit mir, einem 14-jährigen, eigenwilligen Knaben, und meinem ebenso lebendigen, vier Jahre jüngeren Bruder nicht leicht. Sie achtete streng auf die Einhaltung der Essenszeiten und die häusliche Ordnung, als wir jünger waren, gelegentlich unter Zuhilfenahme ihres Teppich-klopfers. Mein Bruder warf mir, wahrscheinlich zu recht vor, ich sei oft schneller gewesen, wäre durchgehuscht und er hätte an meiner Stelle die Prügel bezogen. Die Mutter ließ uns ansonsten große Freiheit, und sagte nur, wenn ich spät nach Hause kam: „ich solle ihr keine Schande machen“ was immer das bedeutete. Oft gab es, wie mir schien wegen ihres Starrsinns, vermutlich ein Erbe ihres autoritären Vaters, lebhaft geführte Auseinandersetzungen. Ein Grund mehr, Abstand zu halten, und Verständnis bei meinen Freunden zu suchen.
Der Krieg war gelegentlich auch in Rheinfelden zu spüren. Wir saßen oft nach dem Sirenengeheul nachts ängstlich im Luftschutzkeller, hörten die Geräusche der Flugzeuge und einmal den Einschlag von Bomben im Industriegebiet. Tiefflieger griffen damals auch Fahrzeuge auf Zufahrtsstraßen an. Im Herbst 1944 wurden wir zum Schanzen nach Efringen-Kirchen abgestellt. Wir mussten Panzergräben herstellen. Gleichzeitig waren wir Weinbauern zugeteilt, um bei der Lese mit zu helfen. Ich habe nie vergessen, wie der altersschwache Bauer, dem wir zugeteilt waren, volltrunken, ohne Schaden zu nehmen, eine steile Treppe des Hauses herunter kugelte, wieder aufstand, und auf unsicheren Beinen davon wankte. Einige Wochen später, ich war damals gerade 15 Jahre alt, wurde ich für drei Wochen in ein „Wehrertüchtigungslager“ zur vormilitärischen Ausbildung einberufen. Dann kam es zu einer entscheidenden, uns sehr überraschenden Situation: Wir wurden in einen Saal geführt, in dem Werber an den Wänden Photographien der verschiedenen Waffengattungen aufgehängt hatten. Mich überzeugte der glänzende Vortrag über die Vorteile eines Achtrad-Panzer-Spähwagens, der vorn und hinten steuerbar war, und dessen Reifen sich bei einem Durchschuss wieder selbständig abdichteten. In meinen Augen eine Lebensversicherung, und so meldete ich mich mit andern Kameraden aus derselben Klasse freiwillig zur Waffen-SS. Als ich dies abends stolz Bertholds Vater erzählte, hätte er mich am liebsten verprügelt. Er erklärte mir in scharfem Ton: „Der Krieg sei doch verloren!“ Ich habe ihm diese Gardinenpredigt nicht übel genommen, und ihn auch nicht verraten. Er wäre ja sonst wegen Zersetzung der Wehrkraft verhaftet worden. Die Ereignisse nahmen nun ihren eigenen Lauf. Unsere Mutter war in großer Sorge.
Wir wurden zur Ausbildung einberufen. Auf unserer Fahrt erlebten wir in Immendingen den ersten Tieffliegerangriff und suchten, wo immer möglich, Deckung. Nach diesem Angriff war die Begeisterung bei vielen Schulkameraden dahin. Sie flohen, und kamen wieder zurück nach Rheinfelden. Mit zwei weiteren Kameraden, die nicht desertieren wollten, gelangte ich nach einer Übernachtung im zerstörten München, nach Mittenwald. Dort bekam ich zum Glück eine schwere Angina und lag deshalb einige Zeit auf der internen Krankenstation. Dadurch entkam ich der militärischen Ausbildung, wurde nicht eingekleidet, und bekam auch keine Blutgruppe tätowiert. In dieser Krankenstation lagen nur altgediente Soldaten, die versuchten, das Kriegsende abzuwarten, Sie gaben mir Nachhilfe zur Beurteilung der wirklichen Lage. Als am 20. April 1945, an Führers Geburtstag, keine Geheimwaffen zum Einsatz kamen, überzeugten mich die Argumente der Landser. Ich entschloss mich danach, trotz der damit verbundenen Gefahren, zu entkommen. In meiner Hitlerjugend-Winteruniform, mit Brot und Wurst in einem Einkaufsnetz, und einem Regenschirm, stieg ich nachts über die Kasernenmauer. Mein Ziel war, Richtung Bodensee zur Tante nach Singen zu gelangen. Zu Fuß, gelegentlich auf einem Traktor, gelangte ich nach Radolfzell. Dort wurde ich mit anderen Jugendlichen von einer Streife gestellt, eingekleidet und zur Verteidigung von Radolfzell eingesetzt. Wir bauten uns zur Übernachtung Schützenlöcher. Ich wurde als Zugmelder und Verbindungsmann eingeteilt. Diese Aufgabe führte ich einmal durch, um zu berichten, dass französische Panzer auf der Straße vorrückten. Wir befanden uns auf einem kleinen Hügel. Einige Stunden später kämmten gepanzerte Fahrzeuge auch unser Gelände durch. Wir versuchten uns vor dem Maschinengewehr-Feuer zu schützen und robbten in einer Ackerfurche in den toten Winkel. Ich war nicht einmal in dieser Technik erfahren, und ich blieb, obwohl ich bat, auf mich zu warten, zurück. Das war mein Glück, denn ich konnte nun beobachten, wie meine Kameraden, die bergauf über freies Feld zu einem Waldstück zu gelangen suchten, nacheinander wie die Hasen abgeschossen wurden.
Ich handelte intuitiv: Bei der Einkleidung in Radolfzell hatte ich keine Unterwäsche gefasst, sondern meine Winteruniform anbehalten. Ich vergrub meinen Wehrpass, ließ den Waffenrock und die Waffen in der Ackerfurche zurück, war nun als Hitlerjunge erkenntlich, schwenkte eine weiße Binde, als Zeichen mich zu ergeben, und ging den Franzosen entgegen. Mehrmals wurde ich energisch befragt, ob ich zur Waffen-SS gehörte. Ich gab mich als Hitlerjunge aus, der ich ohne Ausbildung und je einen Schuss abgegeben zu haben ja auch war. Dennoch war es eine schwierige Situation, denn die Pistolen saßen damals sehr locker. Ich weiß auch nicht wie man mich behandelt hätte, wenn ich die Blutgruppe gehabt hätte, denn alle Angehörigen der Waffen-SS wurden aussortiert. Wir wurden mit erhobenen Händen gesammelt, durften sie erst nach einiger Zeit auf den Kopf legen, uns dann später setzen, und wurden nach Radolfzell transportiert. Dort brachte man uns in das Stadtgefängnis. Ich war noch nie an einem solchen Ort, bekam schreckliche Angst, und weinte. Ein französischer Offizier, führte mich mit gezogener Pistole aus dem Gefängnis und übergab mich in einer requirierten Wohnung, mit der Anordnung mir zu essen zu geben und weiter zu helfen, einer deutschen Familie. Als ich anderntags erwachte, war die Wohnung leer. Ich bedankte mich freundlich auf einem Zettel bei meinen Gastgebern, klaute ein Fahrrad, und fuhr nach Singen zu meiner Tante. Diese schlug die Hände über dem Kopf zusammen, als ich etwas zerzaust dort ankam.
Um von Singen weiter zu kommen, brauchte man einen Passierschein, der schwer zu erlangen war, weil viele Menschen sich in der großen Stadt sammelten, die ebenfalls weiter wollten. Nach einigen Tagen gelang es mir, meine Tante davon zu überzeugen, dass ich unbedingt nach Hause wollte. Ausgestattet mit einem Einkaufsnetz, Verpflegung, und einem Regenschirm, gelangte ich an die Stadtgrenze, die mit einer bewachten Schranke versehen war. Hier hatte ich wieder Glück: Eine junge, hübsche Frau, zog einen Leiterwagen. Ich gesellte mich zu ihr mit der Bitte, mich nicht zu verraten und zog deren Leiterwagen durch die Schranke, während die französischen Soldaten sich interessiert mit ihr unterhielten. Auf einer kleinen Kommandantur außerhalb Singens, gelang es mir dann einen Passierschein bis Waldshut zu bekommen. Nun stiefelte ich über den Randen, von Schranke zu Schranke, Richtung Heimat. Gelegentlich forderten mich die Wachen auf, ihr Geschirr zu spülen. Ich entschloss mich in Dogern, einem kleinen Ort bei Waldshut, eine Verlängerung meines Passierscheins zu bekommen, und kam dann zu Fuß nach diesen Erlebnissen wieder in Rheinfelden an. Meine Mutter war mehr als überrascht, als ich gesund und wohlbehalten wieder zu Hause war.
Nach Kriegsende hatte die Bauunternehmung Metzger wieder mühsam den Betrieb eröffnet. Dort stellte ich mich vor, um meine Lehre fortzusetzen. Als ich mich am Schalter meldete, und das vertraute Gesicht des Lohnbuchhalters sah, erschrak ich sehr. Erwar so abgemagert, dass ihm der Kragen seines Hemdes mehrere Zentimeter vom Hals abstand. Nur ganz langsam begriff ich, wasein verlorener Krieg und die französische Besatzung bedeuteten. Der Zusammenbruch des Ideals von Führer Volk und Vaterland, war fast noch schwerer zu ertragen, als der andauernde Hunger und der Kampf ums Überleben. Nun wurde uns mit schonungsloser Deutlichkeit vor Augen geführt, was in den KZ-Lagern geschah. Davon hatte auch ich keine Ahnung. Umso mehr erschütterten uns die grauenvollen Bilder und die Berichte über die Gräueltaten. Meine Reaktion: Nie wieder Krieg, und der Entschluss, dem Frieden ohne Waffen in der Hand zu dienen. Ich wurde später als einer der so genannten „weißen Jahrgänge“ auch nicht mehr zur Bundeswehr eingezogen. Gott sei Dank, musste ich bis zum heutigen Tag niemals auf Menschen schießen. Es gab aber auch andere Erfahrungen: Nach dem Krieg wollte niemand mehr Nationalsozialist gewesen sein. In der Handelsschule grüßten die Lehrer uns nun mit Grüß Gott. Alles, was mit Stolz auf das deutsche Vaterland zu tun hatte -das war ja nicht nur das Dritte Reich- erschien bedeutungslos. Ich begann mich mit der französischen Nation und den Vorstellungen von einem geeinten Europa anzufreunden. Erst viel später, nach einer längern Reise mit meinem Pfarrer durch ganz Frankreich, die mit einem gesalzenen Strafmandat wegen Geschwindigkeitsüberschreitung endete, kam es zu einer ersten Ernüchterung mit den Fragen, ob wirklich nur wir Deutsche an diesem Elend schuldig waren? Ich begann, ohne darüber zu reden, auch mich zu fragen, was andere Nationen getan hatten. Die Atombomben auf Japan, der grausame Luftkrieg gegen die wehrlose Zivilbevölkerung in deutschen Städten, die Vertreibung Deutschstämmiger aus dem Osten und vieles andere, erschien mir ebenso kritikwürdig. Es war aber mehr als erstaunlich, dass alle Älteren, die ebenfalls geschockt waren, große Nachteile befürchteten, wenn sie von ihren Erfahrungen im Dritten Reich erzählt hätten.
Ich habe selbst erst viele Jahre nach Kriegsende, außerhalb der Familie, zum ersten Mal mit gleichaltrigen Freunden über diese bittere Zeit gesprochen. Ein befreundeter Schweizer, dem es gestattet war, während des Krieges die Schule in Rheinfelden-Schweiz zu besuchen, erklärte in der Runde, dass er in der Schweiz “Sauschwabe“ in Deutschland „Schweizerlöli“ genannt wurde. In Wirklichkeit hätte er auch ganz gern die Hitlerjugend-Uniform wie wir getragen. Während bei uns in den Hungerjahren nach dem Krieg geklaut wurde, was nicht niet- und nagelfest war, musste ich mit der Erfahrung zu Recht kommen, dass, nach der Grenzöffnung zur Schweiz, dort die Einkaufsnetze mit den Lebensmitteln, unbeschadet an den Fahrrädern hängen bleiben konnten. Wir hatten doch auch unsere Ehre, und sehr darunter gelitten, dass der unselige Krieg mit dazu beitrug, unsere Wertvorstellungen in Deutschland zu destruieren. Wir litten in Rheinfelden sehr unter der französischen Besatzung. Die Maschinen und technischen Anlagen, die noch zu gebrauchen waren, wurden als Beute abtransportiert. Viele Menschen kamen wegen ihrer Nähe zu den Nationalsozialisten in Lager zur Entnazifizierung. Auch der Vater eines Freundes, der während des Krieges unabkömmlich gestellt wurde, ohne die Partei-Ideologie zu vertreten, wurde längere Zeit in ein Lager gesteckt. Es fehlte an allen Ecken und Enden am Nötigsten. Vor allem in den Jahren 1945 und 1946 mangelte es an Nahrungsmitteln. Wir litten schrecklichen Hunger: Unsere Mutter teilte uns das Brot zu, und ich nahm mir etwas von dem, was meinem Bruder gehörte. Er erregte sich so, dass er keine Luft mehr bekam. In größter Panik spritzte ich ihn mit kaltem Wasser ab, um ihn vor dem Ersticken zu retten. Eines Tages aber sagte unsere Mutter, sie habe nichts mehr zu essen. Wir Buben gingen dann gemeinsam nachts auf die umliegenden Felder und brachten Lauch nach Hause. Selbst Kartoffeln gehörten zu den Kostbarkeiten. Eine reichliche Kirschenernte nutzten wir Buben aus, um unseren Hunger auf den Bäumen zu stillen. Wir gingen alle hamstern. Mein Bruder war ein liebenswerter, hartnäckiger Bettler. Wenn er vorn zur Türe hinaus komplimentiert wurde, erreichte er es, bei einem erneuten Versuch oft über den Hintereingang, Beute zu machen. Ich war eher in der Lage zu verhandeln, wenn brauchbare Gegenstände aus unseren Besitz gegen Lebensmittel einzutauschen waren.
Eines Tages wanderten wir über Säckingen hinauf nach Giersbach zu unseren Verwandten, bekamen Speck und Butter zugesteckt, und einen Sack mit Kartoffeln. Auf dem Rückweg machte unsere Mutter schlapp, und wir zogen sie zusammen mit den Kartoffeln auf dem Leiterwagen nach Hause. Sie hatte in der Hungerzeit zu Weihnachten Plätzchen gebacken, um uns eine Freude zu machen. Ich entdeckte die Dose in ihrem Schrank im Schlafzimmer versteckt, und versorgte mich mit einer Handvoll dieser Süßigkeiten. Nach einigen Tagen startete ich einen erneuten Versuch und staunte sehr, denn ich hatte den Eindruck, dass ich nicht so viele Plätzchen entwendet hatte. Trotzdem bediente ich mich weiter. Dann kam der Weihnachtsabend. Unsere Mutter wollte uns mit dem Gebäck überraschen, und kehrte blass, tief gekränkt, enttäuscht und wütend, mit der Frage zurück, wer die Plätzchen gegessen habe? Ich gestand betreten meine Schuld mit der Bemerkung, dass ich zwar davon genommen, aber nicht alle gegessen hätte. Mein Bruder schloss sich mit seinem Bekenntnis an, und bemerkte, nun sei ihm endlich klar, wer auch noch genascht habe. Die Weihnachtsstimmung war unter diesen Umständen erheblich beeinträchtigt. Wir drei waren damals sehr auf einander angewiesen, vor allem nach der Scheidung unserer Mutter. Mein Stiefvater wurde als Kommunist lange in einem Konzentrationslager interniert und kam erst nach dem Krieg wieder frei. Er heiratete erneut, erkrankte, und hinterließ nach seinem Tod in den Nachkriegsjahren Frau und Kinder. Erst in diesen Tagen begriff ich nach einem Gespräch mit meinem Bruder, dass er im Unterschied zu mir, seinen Vater gar nicht erlebte. Ich bin leider nach der Kinderzeit, meinem Stiefvater nie mehr begegnet, um ihm danken zu können. In der Rolle des Ältesten, war ich immer gefordert, einzuschreiten, wenn es galt, die Regeln und Ansichten unserer Mutter zu verteidigen. Ich nahm sie in Schutz, wenn sie sich aus irgendwelchen Gründen mit den Mietern angelegt hatte, obwohl ich manchmal unsicher war, ob sie im Recht war. Nachdem mein Bruder ebenfalls Arbeit in der Firma Metzger fand, wanderte auch der größere Teil seines Verdienstes, wie bei mir, in die Familienkasse. Einen bescheidenen Anteil unserer Entlohnung, gab uns die Mutter zur eigenen Verwendung. Sieselbst arbeitete, nachdem die Grenze wieder geöffnet war, in der Schweiz, um Geld zu verdienen.
Damals gab es bei uns weder Radio noch Fernsehen. Wir sangen daher viel zusammen. Alle Volkslieder und Schlager, die unsere Mutter einst mit uns sang, gehören heute noch zu meinem Repertoire. Mir fällt im Moment das schöne Lied in Schweizer Mundart ein: „Lueget vo Berge und Tal, flieht scho de Sunneschtrahl…“, das wir abends sangen. Wenn wir den Ton nicht genau trafen, war das für Mutters Ohren unerträglich. Entsprechend deutlich fiel dann Ihre Kritik aus. Ich wunderte mich auch oft, wer ihr die Regel beigebracht hatte, nach einem guten Essen sofort unser Geschirr von Hand zu spülen. Es gab damals bei uns weder Spül- noch Waschmaschine. Unsere Mutter produzierte manche komisch Szene: Sie beschloss einmal, uns Buben einzusetzen, um die Wohnung gemeinsam zu streichen. Weder mein Bruder noch ich hatten die geringste Ahnung wie das geht. Jeder meinte aber zu wissen, was zu geschehen habe. Die Mutter behielt sich vor, dafür zu sorgen, dass bei diesem Geschäft alles sauber blieb. Es ist nicht zu beschreiben, wie wir uns gegenseitig in die Haare gerieten, und wie die Wohnung nach unserer Arbeit aussah. Bei anderer Gelegenheit saß unser Untermieter mit uns zusammen in der Küche. Unserer Mutter entwich vernehmbar ein „ Windchen“. Sie behielt die Fassung und setzte die unschuldigste Miene der Welt auf. Wir drei Herren bemerkten die Peinlichkeit sofort, und konnten nur mühsam unser Lachen unterdrücken. Es war wie eine Erlösung, als mein Bruder zu kichern begann. Wir amüsierten uns alle köstlich, während die Mutter noch einen letzten Versuch wagte, die reine Unschuld zu spielen. Ich war glücklich, als mein Freund Harald bei uns ein Zimmer bekam. Seine Leidenschaft galt der Photografie. Unsere Mutter konnte es nicht fassen, als sie bei einem nächtlichen Kontrollgang feststellte, dass Harald die Küche in eine Dunkelkammer verwandelt hatte. Das Mietverhältnis wurde mit sofortiger Wirkung gelöst. Ich konnte aber leider meinen Freund nicht retten. Wir verblieben dennoch bis zum heutigen Tag in einem beidseits sehr erfreulichen Kontakt. Mit der hochdeutschen Sprache stand unsere Mutter zeitlebens auf Kriegsfuß. Einmal erklärte sie uns entrüstet, nachdem sie von einem Kuraufenthalt zurückkam, wie wenig man sie dort verstanden habe. Sie habe sich doch so bemüht hochdeutsch zu reden und eine Mitbewohnerin gebeten: „Bringen sie mir bitte meine Schlappen!“ und als diese nicht reagierte, sich verbessert: „Ich mein die Finken da!“ Sie sei sehr enttäuscht gewesen, als ihre Mitbewohnerin nicht begriff, dass sie ihr die Hausschuhe bringen sollte.
Die Mutter fuhr bei anderer Gelegenheit per Bahn über das nahe gelegene Basel hinaus nach Weil. Dort musste sie die Strecke von Basel nach Weil am Bahnschalter nachlösen. Sie stellte kühl und gelassen fest, als ihr der Betrag zu hoch erschien: „ Sie sind ja verrugt!“ der Beamte schrie erregt: „Beamtenbeleidigung!“ unsere Mutter entgegnete unbeeindruckt und gelassen: „jetzt spinnt er au no!“ Einige Jahre später: Mein Bruder war längst ein erfahrener Handelsvertreter und erfolgreicher Verkäufer. Er begleitet unsere Mutter, die ein Sofa zum angebotenen Sonderpreis erwerben wollte. Sie erkundigte sich, ob der günstige Preis gehalten würde? Der Verkäufer bejahte. Dann betrachtet sie das Objekt genauer, entdeckt einen kleinen Fehler, und handelt einen Sondernachlass aus. Es gelang ihr auch, erfolgreich auf den drei Prozent Skonto bei Barzahlung zu bestehen. Als sie aber noch ungeniert auf der Forderung beharrte, ihr stünden laut Angebot bei der Höhe des Preises einige Handtücher gratis zu, machte sich mein Bruder aus dem Staub. Unsere älteste Tochter, eine gebürtige Münsteranerin, war mit uns zu Besuch bei der Rheinfelder-Oma. Auf der Heimreise erklärt sie uns, die Oma sei ja sehr lieb zu ihr gewesen, habe ihr Schokolade geschenkt, und viel mit ihr geredet, und dann – unter einem Seufzer – : „wenn sie nur deutsch reden könnte!“ Die Mutter hatte aber auch andere Seiten: Ich wurde zunehmend älter, eigenwilliger, kritischer und erprobte mein Überlegenheit. Sie verstand es jedoch ausgezeichnet, mich bei den nun häufigeren Konflikten „auf die Palme zu bringen“. Einmal reizte sie mich durch ihre Argumentation und gewöhnliche Sprache bis zur „Weißglut“. Ich hielt ein kleines Küchenmesser in der Hand und warf es in meiner Wut wie ein Indianer, so dass es in der Küchentüre stecken blieb, mit der Bemerkung: „Jetzt ist es genug!“ Wenn sie sich dann in ihr Zimmer zurück zog oder auf einem Stuhl schaukelte und Lieder summte, wusste ich, weiter zu reden macht keinen Sinn. Die einzige Möglichkeit bestand dann darin, Abstand zu halten, mich aus dem Staube zu machen. Erst mit den Jahren begriff ich, dass ein gelegentlicher Rückzug und ein Ausgleich von Distanz und Nähe im gegenseitigen Interesse lagen. Wenn sich der Pulverdampf verzogen hatte, schenkte ich ihr, wie zuvor, nach dem sonntäglichen Gottesdienst Blumen, oder brachte Kuchen mit. Gelegentlich fuhren wir auch einträchtig nach Basel, um uns die Stadt und die Geschäfte anzusehen. Auf einer Photographie aus jener Zeit, reichte ich meiner Mutter den Arm. Sie ging, schick gekleidet, an meiner Seite. Wir schauten beide auf diesem Bild sehr zufrieden aus. Wenn wir uns bei einem Wortgefecht nicht einigen konnten, und Abstand nötig war, besuchte ich enttäuscht und geknickt, meinen Freund Ernst. Er hatte Verständnis für meinen Kummer und war in der Lage, mich meistens mit tröstenden Worten wieder zu ermutigen. Ihn kannte ich schon vor Ende des Krieges. Er dressierte Schäferhunde. In der damaligen Zeit gründeten wir den Wassersportverein Möwe mit den hohen Idealen: „Nicht zu rauchen, keinen Alkohol zu trinken, Abstand von Frauen zu halten und viel Sport zu treiben. Ernst besaß auch eine große Sammlung an Gewehren und Pistolen, die wir in seinem eigenen Schießstand zu Übungen benutzten. Einmal spornte er mich zu sportlichen Übungen an. Ich folgte ehrgeizig und verbissen seinen Anordnungen. Danach lag ich bei ihm mit Fieber im Bett. Ernst besaß aber auch einen schönen Flügel auf dem ich improvisieren durfte. Er übte als Musikstudent oft an der Orgel, während ich den Blasebalg zu treten hatte.
An einem trüben Tag, saßen wir unter dem tief gezogenen Dach des alten Hauses. Um uns herrschte eine gemütliche Unordnung. Wir hörten den Regentropfen zu, die auf das Dach prasselten. Unsere einzige Aufgabe bestand darin, harte Erbsen aus trockenen Schoten zu pulen. Ich habe den Klang der Erbsen noch im Ohr, die in unsere Blechschüsseln fielen, und spüre erneut das Vergnügen, in die Schüssel zu greifen, und die Erbsen durch die Finger gleiten zu lassen. Ernst macht seinem Namen alle Ehre. Manchmal erschien er mir bei seinen musikalischen Vorlieben fast zu ernst. Er spielte mit Hingabe Kompositionen von Bach. Da ich mich aufgeschlossen erwies, führte er mich beharrlich in die klassische Musik ein. Ich besitze heute noch Schallplatten und CDs in meiner Sammlung, die er mir schenkte. Leider konnte er wegen einer Verletzung nicht mehr selbst musizieren und starb vor wenigen Jahren. Ich hatte aber zusammen mit meiner Frau das Vergnügen, seinen Sohn Rainer, der es wie so oft im Leben weiter brachte, als sein Vater, anlässlich eines Konzertes an der Orgel zu hören. Er spielte Werke von Buxtehude. Für mich wirkten seine Darbietungen über die Perfektion hinaus, wie musikalische Gebete.
Am 5. März 1946 erhielt ich einen Brief von meinem Vater, dass er seit 6 Wochen wegen einer schweren Krankheit stationär behandelt werde. Damals waren die Besatzungszonen abgegrenzt. Nach früheren Erfahrungen zog ich es vor, die Reise nach Karlsruhe ohne Passierschein anzutreten. Ich wollte meinen kranken Vater aber unter allen Umständen besuchen. Es gelang mir, unauffällig und ohne Kontrolle die Schranken zu passieren und die Gaststätte Baden, die meine Stiefmutter bewirtschaftete, zu finden. Sie ging sofort mit mir zum Krankenhaus. Wir standen in der offenen Tür zum Bettensaal. In den etwa 30 Betten lagen Patienten in gleichen weißen Bettbezügen. Meine Stiefmutter sagte zu mir: „ Franzel, such Deinen Vater!“ Ich war ihm seit meiner frühen Kindheit nicht mehr begegnet und besaß nur Photos von ihm. Wie an einer Schnur gezogen, ging ich auf sein Krankenbett zu. Ich erinnere mich aber nicht mehr daran, was wir uns zu sagen hatten. Es war das letzte Mal dass ich meinen geliebten Vater lebend sehen konnte. Am 26.8.1946 starb er. Ich fuhr wieder nach Karlsruhe zur Beerdigung. Damals lagen in einer Wiege Zwillinge, meine Schwester Doris und mein Bruder Peter, die unseren Vater nie kennen lernten. Obwohl auch ich ihn wenig erleben konnte, manchmal sehr vermisste, und nur seine Briefe und zwei Ölgemälde von eigener Hand zur Erinnerung in Ehren halte, blieb ich ihm über seinen Tod hinaus in Gedanken immer nahe.
Nachdem ich in die „Jahre“ kam, begann ich mich immer mehr für unsere Verwandtschaft zu interessieren. Verwandte mütterlicherseits aus dem Hotzenwald, von Todtmoos, Engelschwand und Giersbach besuchten uns gelegentlich. Eine Schwester meines Vaters, Tante Gretel und ihr Mann, ein Zollbeamter, kamen öfters zu Besuch. Tante Gretel hielt die väterliche Familie zusammen. Zu den Verwandten in Amberg in der Oberpfalz, dem Geburtsort meines Vaters, und seinen in Bayern verstreuten Geschwistern, gab es in der Kriegs- und Nachkriegszeit leider keine Kontakte. In späteren Jahren lernte ich sie aber alle kennen und schätzen. Harald, unser ehemaliger Untermieter, war in der bewegten Zeit bis zum meinem einundzwanzigsten Lebensjahr und darüber hinaus,mein geschätzter Gesprächspartner. Er frug mich damals öfter, warum ich nicht studiere. Ich gab ihm zur Antwort, dass es mir gut gehe, und ich kein Ziel erkennen würde, für das es sich lohne, ein Studium zu wagen. Das sollte sich später ändern. Ich erinnere mich aber gern an die regelmäßigen Besuche im Basler – Kunstmuseum und an die ausgezeichneten Vorträge über die „ Alten Meister „ während eines Winterhalbjahres. Nun steuert meine Erzählung auf das bedeutungsvolle, Datum der Volljährigkeit zu. Meinen einundzwanzigsten Geburtstag habe ich sicherlich ausgiebig gefeiert. Ich kann mich aber beim besten Willen nicht mehr erinnern wo oder mit wem ich diesen Geburtstag verbrachte. In einer nächsten Erzählung, werde ich über Erfahrungen als Baukaufmann reden und darstellen, wie ich zur Würde eines Stadtrats von Rheinfelden aufstieg.