Der alte Mann und die Frau

Gelegentlich begegne ich dem alten Mann, der aufrecht und nachdenklich seinen Weg geht.Seine erkennbaren körperlichen Beschwerden, scheinen ihn nicht besonders zu beeindrucken. Blickt er mich mit seinem von Falten zerfurchten Gesicht, der markanten Nase, dem energischen Kinn und den leicht abstehenden, auf Empfang gestellten Ohren freundlich an, empfinde ich Sympathie und Respekt. Seine fragenden, zugewandten Augen, in denen Güte, Weisheit und Kraft aufleuchtet, fesseln mich immer wieder. Manchmal wirkt er, wenn er ruhig und bestimmt vorwärts schreitet, mitgenommen. Es entsteht aber nie der Eindruck, als könne er in schwierigen Zeiten seine Ziele aus den Augen verlieren. Mit einem Wort: Der alte Mann fasziniert mich. Er scheint ein gutes Herz zu haben. Bei unseren Begegnungen kann ich mich immer ein wenig an ihm aufrichten. Seine Erscheinung ermutigt ohne Worte. Ab und zu wirkt er in sich gekehrt, als ob ihn viele Gedanken bewegten. Ich frage mich immer mehr, was ihn beschäftigt, aus welchen Quellen er lebt und handelt, welche Ziele er verfolgt? Er könnte sicher manche Geschichte aus seinem Leben erzählen. Vielleicht lässt er sich bei unserer nächsten Begegnung ein wenig in seine Seele blicken?

Es überrascht mich nicht sonderlich, den alten Mann, der mich auf meiner Wanderung beschäftigt, nach einer Wegbiegung in der Ferne wirklich zu sehen. Wir sind offensichtlich in der gleichen Richtung unterwegs. Mir wäre es nie in den Sinn gekommen anzunehmen, es könne ihm in seinen Sportschuhen an Tempo gelegen sein. Im Gegenteil. Heute wirkt sein Gang beschwerlicher als sonst, müder aber nicht kraftlos. Langsam, als sei jeder Schritt kostbar, geht er mit Hilfe von Stöcken vorsichtig voran. Der Rücken könnte ihm Beschwerden bereiten. Ab und zu wandern seine Blicke in die umgebende Natur, die gerade jetzt, im Frühjahr beginnt ihre volle Kraft zu entfalten. Die Felder, Wiesen und Wälder stehen stolz in ihren farbenfrohen Gewändern. Ich kann beobachten, wie der Alte die emsigen Bauern freundlich grüßt. Er scheint mit ihnen ebenso vertraut zu sein, wie mit den Vögeln, der wärmenden Sonne,dem plätschernden Bach, und den Blumen und Gräsern am Wegrand. Der alte Mann scheint sich die Zeit zu gönnen, um all die Gaben der Natur mit ihren vielfältigen Stimmen, dankbar zu genießen. Es ist unvorstellbar für mich, ihn zu einer rascheren Gangart bewegen, zu wollen, denn das könnte ihn ja bei seinen „Beobachtungen“ stören. Ganz sicher würde er, eine solche Aufforderung ruhig und bestimmt mit der Bemerkung ablehnen, dass er schon oft in gleichem Schritt und Tritt gegangen und angehalten wurde, Tempo aufzunehmen, und dies nun getrost den Jungen überlas-sen könne. Wenn ich seine, trotz des höheren Alters durch trainierte Gestalt vor mir sehe, legt sich der Gedanke nahe, dass ihm Sport und Bewegung von Kindesbeinen an vertraut sind. Es würde mich gar nicht überraschen, wenn er mir ruhig und stolz erzählte, dass er auch heute noch jeden Tag Gymnastik treibe. Ob er Sportgeräte in seiner Wohnung hat? Überhaupt, wo und wie er wohnt, beginnt mich zunehmend zu interessieren. Ich halte ihn offen gestanden auch für einen Geistessportler und kann mir gar nicht vorstellen, dass er zu Hause nur vor dem Fernseher sitzen könnte. In solchen Gedanken befangen, kommen wir beide uns auf unserem Weg näher. Es fällt mir immer wieder auf, dass der alte Mann im Gegensatz zu den vielen Frauen, die mir unterwegs begegnen, wenig daran interes-siert scheint, sich ein attraktives jugendliches Aussehen zu geben. Er trägt, wie so oft, eine Cordhose und ein leichtes, blaues Wollhemd. Die locker das Haupt umspielenden, leicht schütteren weißen Haare, harmonieren gut mit Blau. Heute lächelt er mich besonders einladend an. Dabei treten seine Lebensringe, die Gesichtsfalten besonders deutlich hervor. Wie viele Jahre mochte er auf dem Buckel haben? Obwohl die Oberlieder der Augen nach Unten drücken, behindern sie seinen freimütigen Blick nicht. Wird es heute zu einem Gespräch kommen? Ich war mehr als bereit dazu. Das zugewandte Antlitz ließ einiges erwarten.

Ich lasse die leichte Beklemmung und Unsicherheit, die mich, als wir uns auf Augenhöhe begegnen befällt, beiseite und grüße in der mir möglichen Offenheit mit einem freundlichen »Grüß Gott!«. Er wendet sich mir voll zu und antwortet mit sonoren Stimme: »Grüß Gott, ein wunderschöner Tag! Sie sind auch schon unterwegs, wie die Bauern auf dem Feld, die zu diesen Wiesen und Äckern gehören!« Ich hatte mich nicht getäuscht. Er hatte tatsächlich mit den Bauern gesprochen und scheint sie gut zu kennen. Offensichtlich kommt er auch mir sehr entgegen. Der alte Mann scheint sich auf ein Gespräch mit mir zu freuen und sich dabei gut zu fühlen. Seine Hände und Arme, sind von der Sonne gebräunt, das Gesicht leicht gerötet. Der Blick ist zugewandt auf mich gerichtet, als modelliere er meine Gestalt. Ich frage mich, wie alt er sei? Derjugendliche Scharm und die lebhaften Gesten, die seine Worte begleiten, erschweren es, mich auf eine Jahreszahl festzulegen.

Ich gebe es schließlich auf, zu rätseln, wie ein Gespräch zwischen einem mehr als ein halbes Menschenleben Älteren und mir verlaufen könnte, welche Regeln da zu beachten wären, und ob er an einem Gedankenaustausch mit mir Interesse haben könnte. Meinen ganzen Mut, die Distanz zu überbrücken, lege ich in die Worte: »Wirsind uns nun schon so oft auf diesem Weg begegnet und heute begrüßen sie mich besonders einladend, sodass ich mir erlaube, sie zu fragen, ob wir nicht ein wenig gemeinsam wandern könnten? Er schien meine Bitte erwartet zu haben und gab freundlich zurück: Er kenne mich auch nur vom Sehen, das müsse uns aber nicht hindern, miteinander ,zu wandern und zu plaudern. Ihm sei im Moment auch danach. Der Bann war gebrochen; nun konnte mich nichts mehr hindern mit dem alten Mann zu reden.

Er schlug vor, uns Zeit zu lassen, um das auch mir sehr vertraute Tal hinauf durch den Wald den Berg hinan, über Zell, wieder zurück nach Oppenweiler zu gehen. Ich gab mir Mühe, mich auf sein Tempo einzustellen. Es war nicht einfach für mich, da ich sehr wohl eine raschere Gangart gewöhnt bin. Er schien dies zu bemerken und sagte: »Ist es Ihnen unangenehm, langsam zu gehen? Ich fühlte mich ein wenig ertappt, sah aber keinen Anlass, etwas zu verheimlichen und antwortete wahrheitsgemäß: »Ich gehe zwar allein viel schneller. Um mich mit Ihnen zu unterhalten, könnte ich mich aber auf ihren langsameren Schritt gut einstellen«. Wir wanderten nun geruhsam den uns bekannten Weg zum Brückle und die Steigung hinauf in den Wald. Der alte Mann nahm mir die Bürde ab, das Gespräch zu beginnen, und verwies auf seine beiden Stöcke: Diese Hilfen benötige ich erst seit zwei Jahren. Nun wohne
ich mit meiner Familie seit 25 Jahren hier in Oppenweiler. Den Weg, den wir zusammen gehen, bin ich früher im flotten Tempo gerannt. Mir ist fast jede Grasnarbe am Weg bekannt. Ich hatte mir damals mein Laufpensum in Intervalle eingeteilt. Es war mir wichtig, den Weg möglichst in immer kürzerer Zeit zu bewältigen. Ich stieg auch gern auf mein Rennrad, vergnügte mich beim Schwimmen, Tennis-spiel und mit Wintersport. Gut, dass ich das alles kenne, denn von alldem ist heute nur die tägliche Gymnastik, und das geruhsame Wandern übrig geblieben.Es hat mich sehr gekränkt, als ich nach und nach alle die mir lieben Sportarten nicht mehr ausüben konnte. Nun bin ich so weit, Ihnen und denen, die schneller gehen oder rennen können, dies Vergnügen von Herzen zu gönnen, denn ich entdeckte, dass ich beim langsamen Gehen sehr viel mehr erleben kann. Erst in diesem Jahr habe ich all das, was auf einem gemütlichen Spaziergang geschehen kann, in einer Erzählung beschrieben. Der alte Mann kam so richtig in Fahrt, als er von seinen vielen Sportarten erzählte, die ihm offensichtlich früher Freude bereiteten. Er schien dabei gar nicht zu bemerken, dass uns beide mehr als ein halbes Menschenleben trennt. Dies ermutigte mich, ihm zu gestehen, dass ich mir bereits überlegt hätte, ob er sportlich interessiert sein könnte und dass ich mich schon länger frage, wie alt er wirklich sein könnte. Er gab mir zur Antwort: » Mit fünfundsiebzig Jahren habe ich meine berufliche Tätigkeit beendet und die Praxis abgegeben. Nun bin ich seit mehreren Jahren im Ruhestand, und ununterbrochen dabei zu lernen, mit der zur Verfügung stehenden Zeit sinnvoll umzugehen. Bei einer meiner mir sehr wichtigen Beschäftigungen, den Wanderungen um Oppenweiler herum, haben wir uns ja kennen gelernt. Wenn Sie wollen, dann schenke ich Ihnen gerne eine Erzählung von mir, damit Sie entdecken können, was dieser Weg mit dem Blick auf die „Reichenberg“ und über Zell zurück im Wechsel der Jahreszeit zu bieten
hat«. Ich war nun doch überrascht. Kaum zu glauben, dass dieser lebhafte und interessierte Mann schon weit über achtzig Jahre alt sein sollte. Für einen Moment wünschte ich mir selbst, dass ich einmal ebenso lebendig und bei Kräften sein dürfte, wenn ich so alt wäre. Ich gab ihm wahrheitsgemäß zur Antwort: »Ich hatte erwartet, dass Sie höchstens auf fünfundsiebzig Lebensjahre zu gehen. Umso erfreulicher sei es für mich, so miteinander reden zu können, als gäbe es keinen Altersunterschied zwischen uns. Ich spüre auch eine gewisse Ähnlichkeit zu Ihrer Lebenssituation: »Seit Jahren bin ich in einem ständigen Lernen und stehe mit meinem Biologie- und Chemiestudium zur Zeit im Examen mit all seinen Unwägbarkeiten und den Problemen, die auch danach auf mich zukommen. Es gibt noch eine weitere Ähnlichkeit. Bei meinen zeitlich aufwendigen Studien komme ich selten zum Ausgleichssport. Es wäre schon viel gewonnen, wenn ich wie Sie, täglich gymnastische Übungen durchführte. Daher nehme ich mir jetzt wieder fest vor, für sportliche Interessen mehr Zeit einzuplanen, damit ich mir später den Vorwurf ersparen kann, etwas versäumt zu haben«. Das Eis war gebrochen. Das unterschiedliche Alter spielte nun keine Rolle mehr. Ich war wie befreit von einer Last. Der alte Mann hatte wirklich eine Fähigkeit, Distanz abzubauen, um ein offenes Gespräch zu ermöglichen. Er schien auch keine Scheu zu haben, mich als junge Frau ernst zu nehmen. Im Gegenteil. Er empfand offensichtlich Vergnügen dabei, mit mir Erfahrungen auszutauschen. Das nun spürbare Vertrauen erlaubte es mir, eine weitere Frage zu stellen: »Ich habe mehrfach beobachtet, dass Sie mit den Bauern auf dem Feld reden. Es schien so, als ob Sie deren Tätigkeit zu schätzen wüssten«. Er schaute mich wohlwollend an und erklärte: »,as wäre eine längere Geschichte. Wenn sie wollen, dann schenke ich Ihnen eine Erzählung, die davon berichtet, wie ich in den Kriegsjahren bei meinen Verwandten auf dem Hotzenwald die Arbeit in der Landwirtschaft in Feld und Wald rund ums Jahr kennen lernte. Sie haben richtig beobachtet, ich schätze die fleißigen Bauern unserer Umgebung sehr und lasse keine Gelegenheit aus, sie das spüren zu lassen. Kenne ich doch die Mühen und Liebe zur Scholle aus eigener Erfahrung. Dies gilt übrigens für alle „Werktätigen“ hier am Ort. Ohne die Menschen in den Betrieben Büros, der Verwaltung, im Gesundheitswesen und den Behörden, ohne unsere Lehrer, Mütter Putzfrauen und Müllmänner könnten wir nicht so leben, wie wir es heute gewohnt sind. Davon, schränkte er ein, steht aber wenig in den Gazetten. Und auch die Medien sprechen kaum von diesen Helden des Alltags, die sich engagiert in Staat und Gesellschaft einsetze Ich erschrak ein wenig bei dem Gedanken, dass so viele Menschen auch für mich tätig sind, an die ich bisher wenig gedacht hatte. Gab dann etwas betroffen zur Antwort: »Offensichtlich hatte ich Sie richtig eingeschätzt, denn ich bemerkte, wie freundlich Sie mit den Bauern sprachen. Dass Ihnen die vielen anderen Berufstätigen aber genau so wichtig sind, hat mich sehr berührt. Denn offen gestanden, darüber habe ich bisher wenig nachgedacht«. Der alte Mann verzog sein Gesicht zu einem gnädigen Schmunzeln und entgegnete: »Seien Sie unbesorgt, in Ihrem Alter, sie haben mir ja noch nicht gesagt, wie „jung“ Sie sind, machte ich mir über manches, was mich heut bekümmert, ebenso wenig Gedanken. Da hatte auch ich andere Interessen. Sie haben ja noch ausreichend Zeit vor sich, und sollten sich keine Vorwürfe mache«. Der alte Mann stand für mich plötzlich nicht mehr auf einem Sockel. Wir begegneten uns auf „Augenhöhe“. Er verlor zwar einige Lorbeer-blätter aus dem Kranz meiner Idealisierung, den ich ihm aufgesetzt hatte, gewann dafür aber umso mehr menschliche Züge. Es brauchte sicher einige Jahrzehnte, um nicht nur weiße Haare sondern auch diese Altersweisheit zu bekommen. Wie tröstlich für mich. Ich gab zur Antwort: Pilgerreise[/caption]

Franz Schwald
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