Bratäpfel

Sie sitzt am Steuer ihres Autos. Ihre Freundin nimmt neben ihr Platz und räkelt sich auf dem Sitz bequem zurecht. Der Wagen ist, wie eine gute Stube im Winter, angenehm beheizt. Anne genießt es in dieser Nacht, Beifahrerin zu sein, sich ihren Gedanken zu überlassen und bemerkt: »Bald ist es so weit. Ich freue mich jetzt schon auf die besinnlichen Abende im Advent. Die Bratäpfel, die uns bei der Gastgeberin erwarten, sind besonders lecker. Sie schmoren sicher schon in der Röhre. Wenn ich an den feinen Duft denke, der durch die ganze Wohnung zieht, läuft mir das Wasser im Mund zusammen. Und danach eine Runde Bridge mit unseren Freunden. Mein Herz, was brauchst du mehr! Ein solches Ereignis hebt die Laune, hellt alle Dunkelheit auf und lässt uns, die in diesem Jahr schon früh einsetzenden kälteren Tage leichter ertragen«. Traudel, ihre Freundin, entgegnet: »Ich freue mich auch auf die Bratäpfel, aber weniger auf den harten Winter, mit all seinen Unbilden.

Soeben berichtete mir mein Mann, der von einem Treffen mit seinen Musikfreunden zurückkam, wie schwierig es für ihn war, bei lebhaftem Verkehr mit dem Auto im Dunkeln zu fahren. Die Nebenstraßen seien bei leichtem Nieselregen spiegelglatt«. Ihre Freundin Anne, sitzt derweil, wie ungerührt daneben. Sie kuschelt sich in den Beifahrersitz. Ab und zu huscht ein flüchtiges Lächeln über ihr zufriedenes Gesicht. Ihre Augen, abwechselnd schließend, dann wieder öffnend, ist sie dem Anschein nach gedanklich voll bei ihren Bratäpfeln. Sie zeigt nicht die geringste Neigung, das Thema zu wechseln und bemerkt – wie beiläufig: »Mein Mann ist in solchen Fällen oft ängstlicher als ich. Obwohl er mich vor der Fahrt zu Dir auf die Nachrichten verwies, in denen vor einem überraschenden Kälteeinbruch und glatten Straßen gewarnt wurde, bin ich mit meinem Wagen ohne Probleme zu Dir hierhergekommen«. Die zugegeben, nicht so einladende Wetterlage, sollte uns aber nicht davon abhalten, die wenigen Kilometer nach Stetten zu fahren. Es stehen ja sonst die Bratäpfel und der schöne „Bridge-Abend“ auf dem Spiel. Die B14 ist sicher gestreut und gut befahrbar. Und außerdem, fügte sie schelmisch und leicht überlegen lächelnd hinzu: »Unsere ängstlichen Männer fahren ja nicht mit«. Ihre Freundin entgegnet: »Klar, und im Unterschied zu vielen Autofahrern haben wir ordentliche Winterreifen. Kein Wunder, wenn Sommerbereifte ins Rutschen kommen!« Darauf entgegnet Traudel: »Ich kann mich blind auf meinen Mann verlassen. Er sorgt immer für unsere Sicherheit. Wir sind gut bereift«.

Als ob sie ihren Worten den nötigen Nachdruck verleihen möchte, drückt sie -zur Probe- herzhaft auf die Bremse und erschrickt: »Huch, ich glaube, es ist doch etwas glatt!» entfährt es ihr. Ihre Freundin Anne bemerkt hierzu in beunruhigender Selbstsicherheit: »Macht nichts! Dieses Wetter kann uns nicht einschüchtern. Denk an die leckeren Bratäpfel, die es bei Frau Sommer gibt. Diesen Hochgenuss und den schönen Bridge-Abend können wir uns nicht entgehen lassen«. Es gelingt Anne aber nicht mehr, ihre Freundin vollständig davon zu überzeugen, dass keine Gefahr droht. Man konnte ja bei der zunehmender Dunkelheit, dem stärker aufkommenden Regen und den vielen irritierenden Lichtern entgegenkommender Fahrzeuge, den Mittelstreifen kaum mehr erkennen. Traudel hat inzwischen bereits vorsichtigerweise die Geschwindigkeit gesenkt. Sie hängt nach vorn gebeugt über dem Lenker und versucht, angestrengt durch die hochtourig laufenden Scheibenwischer hindurch blickend, den Bodennebel zu durchdringen, um bei dem lebhaften Verkehr die Orientierung nicht zu verlieren. Leicht gereizt, presst sie zwischen den Lippen die Bemerkung heraus: »Wie üblich, der Hartmannsweiler Stau! Aber heute schon so ungewöhnlich früh«. Dann fügt sie in einer Art kritischem Kommentar hinzu: »Immer diese ängstlichen Autofahrer, die sich bei Glatteis nichts mehr zutrauen«! Anne, von ihren Gedanken über die leckeren „Bratäpfel“ unangenehm abgelenkt, entgegnet: »Man kommt nicht vorwärts, wenn alle so langsam und vorsichtig fahren. Scheint doch sehr glatt zu sein«? »Vorsicht«! ruft Traudel plötzlich: »Ich mache eine Bremsprobe«. Dann bemerkt sie erschrocken: »Na ja, ganz so viel Halt haben wir nicht«, als der Wagen leicht ausbricht. Sie fährt fort, und ermahnt sich selbst mit den Worten: »Immer nur leicht auf dem Gaspedal bleiben und nicht plötzlich bremsen«! Sie hat jetzt nur noch Augen für den Verkehr und schreit erregt: »Vorsicht, da vorne stehen sie! Ich glaube da liegt schon einer im Graben. Da geht nichts mehr«! Um dann enttäuscht hinzuzufügen: »Arme Frau Sommer; und unsere schönen Bratäpfel! Vorgestern habe ich ihr noch die „Brettacher“ gebracht, das sind einfach die besten dafür«. Ane, immer für einen Rat gut, sagt hierauf: »Ich schlage vor, wir biegen einfach ab. Ich kenne eine passende Nebenstrecke. Wir fahren über Höfen, da ist die Straße sicher frei. Traudel versucht es mit einem kaum mehr wahr zu nehmenden Einwand: »Hier scheint’s aber spiegelglatt zu sein! Da vor uns am Berg, drehen bei einem Auto schon die Räder durch«! Danach selbstkritisch: »Bloß nicht anhalten! Achtung! ich fahre um das Auto herum in die Kreuzung«. Und mit einem Aufatmen: – »Geschafft, das war aber knapp! Wie viele Menschen heute unterwegs sind. Die können alle nicht Auto fahren«! Anne erregt warnend schreit: »Rechts vor uns liegt einer im Graben«! Hierauf bemerkt Traudel, betont höflich, »Danke, ich weiche aus«. Dann leicht entsetzt der Ausruf: »Links, ein Auto im Gegenverkehr schlingert! Wie kommen wir hier vorbei«? Sie gibt sich selbst gute Ratschläge und sagt laut und deutlich: »Immer ruhig bleiben. Ich schlängle mich durch. Bloß nicht bremsen und anhalten. Huch, jetzt geht’s bergab«! Der Wagen rutscht fast von allein. Bremsen nützt nichts. Entsetzt äußert Anne: »Rechts vor uns liegt einer im Graben! Vorn links, auch! Sind das aber viele Autos, die liegen bleiben! Was wollen die denn alle bei so einem Wetter auf der Straße? Frau Sommer wird uns schon sehnlich erwarten. Es ist ja bereits Viertel nach Acht. Die schönen Bratäpfel! Wir haben uns doch so auf diesen Abend gefreut. Um besser sehen zu können, rückt Traudel immer näher an die Windschutzscheibe heran. Dann mahnt sie sich deutlich zur Vorsicht: »Achtung! komme ich da durch? Verdammt eng! Wie weit der in der Mitte fährt, der Hornochse! Hoffentlich fängt er nicht an zu rutschen«! Sie atmet befreit auf mit den Worten: »Gut gemacht«! Endlich eine ebene Strecke, vierspurig. Jetzt haben wir es nicht mehr weit. Wäre ja auch zu schade, wegen so einem bisschen Glatteis auf die leckeren Bratäpfel und unseren schönen Bridge-Abend verzichten zu müssen. Die beiden Bridgerinnen erreichen auf ihre Weise wohlbehalten das gastliche Haus von Frau Sommer. Die Bratäpfel sind nicht verkohlt und schmecken nach der anstrengenden Reise besonders gut. Und als sie sich gegen Mitternacht zur Rückfahrt auf den Weg machen, hat ein gütiger „Wetter- oder Bridge-Gott“ die Strasse von jeglichem Glatteis und unangenehmen Verkehrsteilnehmern befreit. Sie sind sich auf der Heimfahrt einig, dass es sich in diesem Falle lohnte, entgegen der guten Ratschläge ihrer Männer, den eigenen Fahrkünsten und Entscheidungen zu trauen.

Heimatliche Stimmung
Franz Schwald
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