Als ich mich mit dem Thema „Leben und Wahrheit“ befasste, und darüber nachdachte, auf welche Weise der geplante Text in meinem Leben verankert ist, fielen mir Szenen ein, die mehr oder weniger mit diesem Inhalt zu tun haben. Es schien mir aber unmöglich, sie in einem übergreifenden Text angemessen zu berücksichtigen. Die spontanen Einfälle schienen mich zunächst vom eigentlichen Thema abzulenken, bis ich erkannte, dass sie den biographischen Hintergrund meiner gewachsenen Einstellung zum Leben und zur Wahrheit gut illustrieren. Ich entschloss mich daher, dem Verlangen der „Störenfriede“ nach zu geben und von ihnen in der Erwartung zu berichten, dass sie mich wieder zum geplanten Text zurückführen würden.
In unserer Familie war die Großmutter mütterlicherseits die ruhende Mitte, ein geistlicher und religiöser Nährboden als Lebensraum, der unsere kindlichen Spiele und Erfahrungen barg. Auf ihre stille Präsenz, ihr Zuhören, Zuschauen, ihr Kreuzzeichen und das Weihwasser zur Nacht, konnten wir uns verlassen. Ihr Gebetbuch und der Rosenkranz waren sichtbarer Ausdruck ihrer Sorge und Liebe, genauso, wie die große Scheibe Bauernbrot mit Butter und Marmelade, wenn wir hungrig darum baten. Geblieben sind Erinnerungen an sie, Achtung, Respekt und Hilfsbereitschaft gegenüber alten Menschen. Zusammen mit der Mutter übernahm sie Erziehungsaufgaben und gewährt uns die nötige Freiheit, in der wir unsere Eigenart entfalten und die kindliche Neugier befriedigen konnten.
Die harte Lebensschule unserer Mutter ist aus heutiger Sicht kaum nachvollziehbar. Ihre Eltern durfte sie nicht duzen. Der Vater, Bildhauer und liberal eingestellter Politiker, gab den Ton an, war aber seiner jüngsten Tochter zärtlich zugetan. Die Folgen des wirtschaftlichen Niedergangs nach dem ersten Weltkrieg, gingen nicht spurlos an seinem Werk vorüber, umso mehr schätzte er die Einnahmen aus einem vierstöckigen Wohnhaus, das seine Frau in die Ehe einbrachte. Ausgerechnet die Jüngste, auf die er große Hoffnungen setzte, sie wollte Tänzerin werden, verliebte sich aber in einen Maler. Die Schwangerschaft bedeutete für sie einen herben Verzicht auf ihre Pläne. Als junge, werdende Mutter, stand sie jedoch zu ihrer Liebe zu mir und zu meinem Vater. Gott sei Dank, habe ich es nie vergessen, dass sie sich damals für das Leben und mich entschieden hat. Es gehörte Mut, Liebe und Tapferkeit dazu, sich entgegen den herrschenden harten Normen der Gesellschaft zu behaupten und sich von eigenen Wünschen zu lösen. Sie gab ihrem Leben in sehr beschränkten Verhältnissen einen Sinn, blieb eine gute „Tänzerin“ die uns Buben unter Gesang in der Küche Unterricht erteilte. Später heiratete sie. Der Vater meines Bruders, war als Monteur viel unterwegs, sehr sportlich, und behandelte mich wie seinen Sohn. Ich respektiere noch heute seine politische Überzeugung, die ihn als Kommunist während des Dritten Reiches in das Konzentrationslager brachte. Diese Spuren früher Erfahrungen berühren durchaus, wie mir scheint, das Thema Leben und Wahrheit.
Während des letzten Krieges hatten wir auch Kontakt zu einer jüdischen Frau. Sie besuchte uns des Öfteren. Fräulein Hirsch, eine noch adrette Dame, trug Kleider ihrer amerikanischen Verwandtschaft, die leider schon etwas aus der Mode gekommen waren, sodass sie befremdlich auf mich wirkte. Ihre jüdische Abstammung oder seltsame Kleidung waren aber nicht der Anlass, zu ihr Distanz zu halten. Fräulein Hirsch liebte mich und wollte mich immer küssen, zu einer Zeit, da ich dafür noch kein Verständnis hatte. Und wenn mir als Junge etwas nicht gefiel, dann regte sich massiver Widerstand.
Unsere Mutter bestellte zum Beispiel in der Adventszeit einen kräftigen Metzgergesellen, der uns als Nikolaus verkleidet, Geschenke bringen sollte. Fräulein Hirsch war auch zugegen. Während mein jüngerer Bruder seine Gebete tapfer aufsagte, und dafür einen Sack mit leckerem Gebäck bekam, weigerte ich mich trotz mehrmaliger Aufforderung, denn in Gegenwart von Fräulein Hirsch wollte ich nicht beten. Dies erkannten weder meine Mutter, noch der Nikolaus oder unsere Besucherin. Die kräftigen Schläge mit der Rute konnten meinen Eigensinn nicht brechen. Ich wurde in den Sack gesteckt und an der Haustüre frei gelassen. Warum ich dennoch, das gleiche Geschenk wie mein Bruder bekam, ist mir lang unverständlich geblieben. Ich kenne den Widerstand und das hartnäckige Verfolgen meiner Ziele auch aus dem späteren Leben. Mir fällt hierzu eine Szene ein, in der ich zum ersten Mal versuchte, meine Selbständigkeit zu erproben: Ich bin ein kleiner Knabe, liebe Musik und bevorzuge die Nähe zum Schlagzeug, dem ich bis zur Stunde als Drummer treu blieb. In einiger Entfernung unseres Hauses fand ein Erntedankfest statt, das meine Neugier weckte. Einige Groschen hatte ich beisammen, um die Fahrt mit dem Omnibus zu bezahlen. Als ich zur Haltestelle kam, fuhr der Bus gerade weg. Welche Enttäuschung! Sie ließ sich nur ertragen, als ich mir für das Geld, kurz entschlossen, eine Wundertüte und Süßigkeiten kaufte. Als ich das Kaffee verließ, stand wieder ein Omnibus da. Ein neues Problem! Ich eilte nach Hause und erzählte, ein großer Junge habe mir meine Süßigkeiten entwendet. Eine glatte Lüge! Sie verhalf mir aber dazu, wieder Geld zu bekommen, um zum Erntedankfest zu fahren. Wie ich nach diesem Abenteuer als kleiner Knirps nach Hause kam, und welche Folgen dies hatte, daran erinnere ich mich nicht mehr. In einer kleinen Stadt, in der Menschen sich kennen und Verantwortung für einander übernehmen, geht man als Kind aber nicht so leicht verloren. Viele aufrechte Menschen begleiteten meine Jugendzeit und bilden den Erfahrungsraum für die Fähigkeit, am Leben teilnehmend, Sorge für einander zu tragen.
Ich bin schon ein größerer Junge, kann etwas lesen und auf Plakaten erkennen, dass in einiger Entfernung ein Segelflugfest stattfindet. Eine spannende Sache. Der letzte Lastkraftwagen mit Sitzbänken auf der Ladefläche steht zur Abfahrt bereit. Ich zeige mein Geld, und bekomme einen Platz auf dem LKW zugewiesen. Leider kommen wir zu spät auf dem Flugplatz an, und ich habe kein Geld mehr. Mit welch hungrigem Blick ich die Erwachsenen beobachtete, die mit gesundem Appetit ihre gebratene Wurst mit Senf verzehrten, kann ich mir lebhaft vorstellen, denn mir läuft auch jetzt, beim Gedanken daran, das Wasser im Mund zusammen. Ein Frisör, der mich kannte, verhalf mir zu einer Wurst und brachte mich zu unserer besorgten Mutter nach Hause zurück. Bis zum heutigen Tag, bin ich selten an einem Wurststand oder an anderen erfreulichen Dingen des Lebens vorbei gekommen, ohne mich zu bedienen.
Meine Liebe zum alemannischen Dialekt, den meine Mutter als einzige Sprache bis ins hohe Alter beibehielt, ist mit dem Leben und Brauchtum am Rhein, in der Nähe Basels, eng verbunden. Nur während des letzten Krieges, war der sonst rege Grenzverkehr zwischen den beiden Städten Rheinfelden unterbunden. Ich kann mir gar nicht vorstellen, unsere Heimatstadt Rheinfelden(Baden) zu besuchen, ohne am Burgkastell bei der Brücke Halt zu machen. In einem Gedicht, „O Du mi lieb´s, alt´s Bruggestuck, Du führsch mi in Gedanke zruck“, habe ich, der ehemaligen Holzbrücke eingedenk, im Blick auf den Rheinhafen und dem ausladenden Fluss, ein Denkmal gesetzt. Dort saß meine Mutter auf der Steinbank, wenn wir vor ihr im Sand spielten. Dieser unserer Heimat, bin ich, den Dialekt eingeschlossen, allzeit treu geblieben. Nicht einmal die vielen Jahre bei den Westfalen in Münster oder die lange Zeit bei unseren heutigen Freunden im schwäbischen Oppenweiler haben es vermocht, meinen heimatlichen Zungenschlag zu verleugnen. Leben ist für mich von Kindheit an mit Sprache, Kultur und Folklore in allen Formen verbunden. Die Not der Kriegsjahre und schwierigen Nachkriegszeit unter der französischen Besatzung, nötigte unsere Mutter nach dem Tod der Großmutter, allein für unser Überleben zu sorgen. Nach und nach verließen die mir hoch in Ehren gehalten Schnitzwerkzeuge unseres Großvaters im Tausch gegen Lebensmittel bei den Bauern unser Haus, um den Hunger zu stillen. Mein Bruder war der erfahrenere Bettler, der nicht nachließ; ich übernahm die Verhandlungen mit den Bauern, wenn es galt, zu günstigen Konditionen zu tauschen. Und dennoch es reichte nicht. Unsere Mutter maß uns die Brotration zu, über die wir wachten und wenn der Hunger drängte, gingen wir nachts auf die Felder und räumten ab, was wir fanden.
Zwei Jahre lang teilte ich in den kargen Kriegsjahren das Leben mit unseren Verwandten auf einem Bauernhof im Hotzenwald. Es gab nicht nur gutes Essen, sondern auch Wunderliches zu erleben: Zum Beispiel die Tatsache, dass Kühe auch ohne ihren Hütejungen den Weg nach Hause finden. Ich staunte auch über die „Berger-Mutter“, die unserem Pfarrer zum Frühstück nach dem Gottesdienst, zusätzlich Rahm in die gute Milch goss, und über dessen Haushälterin, die auch im Sommer noch Weihnachtsgebäck schenken konnte, wenn ich ihr Butter oder Teile einer „Notschlachtung“ brachte. Stolz waren wir Buben auf unseren Pfarrer, der in seinen Predigten im Dritten Reich das offene Wort nicht scheute und uns, als wir aus der Schule vertrieben wurden, in einer Bauernstube den Religionsunterricht erteilte. Hier taucht sie wieder auf, die Erfahrung, der eigenen Meinung auch gegen Widerstand Geltung zu verschaffen. Diesen Mut bewies auch der Vater eines Freundes, der gegen Ende des Krieges, den vergeblichen Versuch unternahm, zu verhindern, dass ich mich freiwillig zum Wehrdienst melde. Ihm drohte, wenn ich das der Behörde gemeldet hätte, eine hohe Strafe wegen „Wehrkraftzersetzung“. Aus den abenteuerlichen Wirren der letzten Kriegsmonate, kehrte ich aber mit Gottes Hilfe unbeschadet nach Hause zurück. Die freie Meinungsäußerung und eine vernünftige Balance von Selbständigkeit und Abhängigkeit sind mir immer ein Anliegen geblieben.
Die Lehrzeit und die Arbeit als Baukaufmann bis zu meinem dreißigsten Lebensjahr, führte mich nach und nach in den Ernst des Lebens ein; in die Sorge um eigen Einkünfte, in einem arbeitsteiligen Miteinander mit Menschen, deren Fleiß, handwerkliches und technisches Können ich schätzen lernte. Mit meinem Bruder zusammen trugen wir nach dem Tod der Großmutter zum gemeinsamen Lebensunterhalt bei. Bei der täglichen Arbeit in einer Bauunternehmung, blieben auch schmerzliche Erkenntnisse nicht aus. Es gab Konflikte zwischen der Firmenleitung und dem Betriebsrat, dem ich angehörte, in der Hierarchie der Mitarbeiter, und durch die Einsicht in Grenzen des Aufbegehrens, um den Arbeitsplatz zu erhalten. Die Bedeutung der spezifischen Sprache im juristisch-technischen Bereich lernte ich ebenso kennen, wie die vielfältigen Aufgaben des Unternehmers, sich unter Konkurrenz im wirtschaftlichen Umfeld einer Region zu behaupten. Geblieben ist die wertschätzende Beachtung aller wirtschaftlichen und technischen Bemühungen eines Gemeinwesens. Diese Grundlage hat mich, bei aller beruflichen Nähe zu den Geisteswissenschaften, stets davor bewahrt, die konkrete Lebensdimension unseres Alltags aus den Augen zu verlieren.
Diese Erfahrung verhalf mir, im Zusammenwirken mit anderen Freunden, zum Stadtrat gewählt zu werden. In dieser Funktion arbeitete ich mehrere Jahre in verschiedenen Kommissionen mit, und leitete unsere Wählervereinigung. Mir wurde letztlich aber klar, dass mich die Politik und die damit verbundenen Belastungen in den menschlichen Beziehungen, nicht auf Dauer zu befriedigen vermögen. Die Distanz zum politischen Geschäft nahm zu, ebenso die Suche nach einer sinnvolleren Aufgabe. Dennoch bereue ich diese Zeit nicht, denn die Erfahrungen aus dem kommunalen Umfeld, spiegeln sich in ähnlicher Weise in anderen Gebilden einer demokratischen Verfassung wieder. Geblieben ist ein nüchterne Blick auf die Möglichkeiten, Grenzen und Notwendigkeit politischen Handelns. In allem, was danach folgte, wiederholte sich im Grunde meine Liebe zum Leben und die Auseinandersetzung mit dem, was als Wahrheit erkannt und auch heute kritisch verteidigt werden sollte. Das Handwerkszeug hierzu sind die von mir ansatzweise beschriebenen Erfahrungen aus dem vielfältigen Lernen im eigenen Leben.